Selbstorganisation statt Interessenvertretung

 

Willst du ein Schiff bauen, so rufe nicht die Menschen zusammen,
um Pläne zu machen, Arbeit zu verteilen, Werkzeuge zu holen und Holz zu schlagen
sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem großen endlosen Meer.
(Saint-Exupéry)

Ich stelle hier eine Thematik zur Diskussion, die recht prinzipiellen Charakter hat. In ihr wird die "Essenz" dessen, was im Philosophenstübchen durchdacht wird, in die Praxis überführt.

Der konkrete Anlaß, zur Diskussion dazu aufzurufen besteht im Zusammentreffen mehrerer Ansätze:

  • Jörg Bergstedt hatte mir die Möglichkeit gegeben, zum Manuskript seines zweiten Bandes zum Buch "Agenda, Expo, Sponsoring" Statements zu verfassen. Da er sich besonders für kompromißlos-radikales politisches Handeln einsetzt und z.B. sehr davor warnt, die Herrschaftsmittel unserer Gesellschaft für eigene Ziele "benutzen" zu wollen, hatte ich Gelegenheit, meine eigenen Auffassungen diesbezüglich zu hinterfragen.
  • Bei meinem eigenen zweiten Band zum Buch "Daß nichts bleibt, wie es ist..." bin ich auch gerade beim Schreiben des "Perspektiven"-Teils und muß Stellung zu dieser wichtigen strategischen Frage beziehen.
  • Einige Freunde aus der Zukunftswerkstatt bereiten eine Veröffentlichung über uns als "Freundeskreis Zukunftswerkstatt" und die hinter unseren Orientierung liegenden Prinzipien und Überlegungen vor. Hier gibt es ausführlich Gelegenheit, diese Fragestellung zu vertiefen.
  • Außerdem schieben wir konkret seit einigen Monaten die Entscheidung vor uns her, ob wir uns hier in Jena aktiv am AGENDA-21-Prozeß beteiligen wollen, d.h. ihn eigentlich wieder zu initiieren. Es ist noch nicht zu Ende durchdacht, ob wir das nur deshalb nicht machen, weil wir einfach die Kraft nicht haben (weil alle vieles andere machen), oder ob wir eher prinzipielle Einwände gegenüber diesen Prozessen haben und das dann vielleicht auch mal deutlich formulieren sollten.

 Hier nur einige Thesen und Fragen kurz zusammengefaßt:

Grundlegend für unser Verständnis für die von uns angestrebte Gesellschaftsverfassung und den Weg dahin ist Notwendigkeit der Übereinstimmung von Ziel und Mitteln.

Wir vertreten dabei die Position " Selbstorganisation statt Interessenvertretung", d.h. es geht uns um die Stärkung der Handlungsfähigkeit der Menschen "von unten" her und orientiert nicht auf Machteroberung, um bestenfalls mit gutem Wollen "Interessen vertreten" zu wollen.

 Problematisch erscheint uns die Situation, daß die Menschen "unten" mitunter lieber selber auf eine bessere Führung warten, statt sich selbst zu organisieren. Wir orientieren auf Selbstbestimmung. Bisher bestimmen sich die Menschen in ihren vorhandenen Freiräumen aber sehr nach konsumistischen und naturzerstörerischen Mustern.

Oder ist das gar keine wirkliche Selbst-Bestimmung? Werden sie fremd-bestimmt durch a) kulturell-psychologische Prägungen und /oder durch b) fetischisierende Vergesellschaftung (Kapitalverhältnis objektiv als sachliches Verhältnis auf alle menschlichen Beziehungen aufgeprägt)? Und reicht dann das Ausrufen der Selbstbestimmung?

 Muß es wirklich "weitsichtigere" Menschen, sozusagen als "Avantgarde" geben, die die Menschen in die "wirkliche" Selbstbestimmung führen??? Das würde der vorausgesetzten Übereinstimmung von Weg und Mittel (Selbstbestimmung/ Selbstorganisation) widersprechen.

 Der Ausweg besteht sicherlich nur in einer ständigen Einheit von "Selbstveränderung der Menschen und ihrer Umstände" (3. Feuerbachthese von Marx). Um diese zu ermöglichen, eignen sich unseres Erachtens viele Vorhaben und Projekte im sozialen und ökologischen sog. Alternativbereich bis hin zu Tauschringaktivitäten und dem Umsetzen von New-Work-Ideen.

 Jedoch haben alle Projekte, die innerhalb der herrschenden Strukturen stattfinden, in irgendeiner Art eine Bindung an die herrschenden Strukturen (Staatsknete, ABM, Gemeinnützigkeitsförmige Vereinssatzungen...). Inwieweit werden dadurch die herrschenden Strukturen vielleicht auch gestärkt???

 Noch zwei Problemfragen:

  • Kennt jemand Beispiele für die Anwendung des Aikido-Prinzops in emanzipativer Politik? Aikido: Angriffsenergie des Gegners wird nutzbar gemacht und verstärkt auf den Angreifer zurückgeführt. "Nicht Gegnerschaft, sondern ihre Aufhebung ist das Ziel" (Zöllner, 1998)
  • Wir kennen und nutzen gedanklich den sog. "Schmetterlingseffekt", der in der politischen Praxis auch auftritt:

"Damit nun ein Standard "umkippen", die Revolution also vollzogen werden kann, müssen 10% der Mitglieder einer Gesellschaft "standardneutral" sein, d.h. Personen, denen es völlig egal ist, ob sie dem Standard angehören oder nicht. Dazu muß 1% aktiver Revolutionäre kommen" (Schwendter 1994, S. 7).

Wie gehen wir mit dem damit tendenziell auch verbundenen Elitarismus um? (Wenn man davon ausgeht, daß eine kleine Menschengruppe in kritischen Momenten entscheidend ist, kann das Avantgarde- und Elitedenken bekräftigen, dem wir ja eigentlich gerade entgegenwirken wollen!!!)

 

Wenn der Bau einer Brücke das Bewußtsein derer,
die daran arbeiten, nicht erweitert,
dann soll die Brücke nicht gebaut werden.
(Frantz Fanon)

 

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