Rationalität in einer irrationalen Welt

(Nach Herbert Marcuse - Für Lutz und Roland)

Vernunft in die Geschichte zu bringen hatte gegenüber Willkürherrschaft und Unterwerfung unter natürliche Übermächte einst eine befreiende Wirkung. Als das Vernünftige, Rationale sich jedoch einschränkte auf das Erreichte und das Bestehende gegenüber Neuem nur noch verteidigte, wurde es repressiv.

Tatsächlich schießen aus dem Gegebenen immer Tendenzen in neue Richtungen heraus. Geschichtlich neue Möglichkeiten bezeichnen mögliche Transzendenz.

Vernunft, die auf allgemeine Begriffe aus ist, trägt diese Transzendenz in sich - sie kann aber in der allgemein vorherrschenden Verwendung abgeschnitten werden.

Diese Transzendenz ist in den Allgemeinbegriffen (Schönheit, Freiheit, Gutes) insofern enthalten, als keine besondere Tatsache sie in ihrer vollständigen Intention enthalten und ausschöpfen kann. Alles Besondere ist durch bestimmte Prozesse, die sich als Verhalten zeigen, gekennzeichnet - aber auch durch das, was ihnen fehlt - was ihnen ihre Begrenzung des Besonderen verleiht.

"Das substantiell Allgemeine intendiert Qualitäten, die über alle besondere Erfahrung hinausgehen" (225).

In der Reflexion entsteht ein Verständnis von dem Betrachteten Ding/Prozeß im Zusammenhang mit anderen Dingen/Prozessen - zwischen diesen besteht stets eine Vermittlung, die als "Erklärung" wirkt.

Dabei entstehen Begriffe, welche die Spannung zwischen dem, was das Einzelne/Besondere ist - und dem, was es noch sein könnte, aushalten. Im Begriff wird das Einzelne über den besonderen Zusammenhang hinausgeführt, "in die Prozesse und Verhältnisse hinein, auf denen die jeweilige Gesellschaft beruht und die in alle besonderen Tatsachen eingehen und dabei diese Gesellschaft konstituieren, erhalten und zerstören." (125)

In unserer Zeit dominiert jedoch beschnittene Rationalität, die die Dinge mit ihrer Funktionalität identifiziert und Begriffe auf Operationensfolgen reduziert. Dieser reduzierten Rationalität gegenüber macht sich ihre eigene Wahrheit als "Ir"-rationalismus geltend.

Alle nicht operationalen Gedanken erscheinen irrational (101). Das Funktionieren im unvernünftigen Ganzen scheint rational zu sein. Tatsächlich rational aber wäre nur noch die " Weigerung mitzumachen und Bemühen, die den Wahnsinn hervorbringenden Bedingungen zu beseitigen" (204).

"Geister", "Fiktionen" und "Illusionen" erkennen häufig die Grenzen und Täuschungen der herrschenden Rationalität deutlicher als ihre Leugnung (200).

Gedanke, die über das Gegebene hinausweisen und historische Alternativen beteuern, erscheinen irrational, "weil sie der Rationalität des bestehenden Universums von Sprache und Verhalten widersprechen." (202)

"Im Licht ihres Wesens und ihrer Idee beurteilt, existieren die Menschen und Dinge als etwas anderes als was sie sind; folglich widerspricht das Denken dem, was (gegeben) ist und setzt seine Wahrheit der der gegebenen Wirklichkeit entgegen.

Die vom Denken geschaute Wahrheit ist die Idee. Als solche ist sie, im Sinne der gegebenen Wirklichkeit, "bloße" Idee, "bloßes" Wesen - Potentialität.

Die Wesentliche Potentialität aber ist nicht gleich den vielen Möglichkeiten, die im gegebenen Universum von Sprache und Handeln enthalten sind. Ihre Verwirklichung macht die Vernichtung der bestehenden Ordnung notwendig..." (147/148)

Philosophie hat in ihren besten Ausprägungen immer dieses Potentielle im Vorhandenen aufgezeigt, sich kritisch gegenüber dem Gegebenen, den "Tatsachen" verhalten und ist insofern nicht wertfrei, unideologisch:

"Sie ist Ideologie, und dieser ideologische Charakter ist gerade das Schicksal der Philosophie..." "ideologische Anstrengung, die Wirklichkeit als das zu zeigen, was sie wirklich ist, und das zu zeigen, was von dieser Wirklichkeit am Sein gehindert wird." (213)

"Die Tatsachen sind das, was sie sind, als Vorgänge in diesem Kampf.... Diese intellektuelle Auflösung, ja Zerstörung der gegebenen Tatsachen ist die historische Aufgabe der Philosophie und die philosophische Dimension." (199)

Diese Orientierung am Transzendenden zeigt sie als "Ewige Philosophie", die in je historisch konkreten Ausprägungen erscheint.

An diese Ewige Philosophie knüpfen auch moderne esoterische Weltbilder an. Sie geben dem Bedürfnis nach Höherem, neuer Ganzheitlichkeit, also Transzendenz der modernen Fragmentierung und Reduktion aufs wirtschaftlich Profitable Ausdruck.

Zielt diese Transzendenz wiederum nur auf eine Versöhnung im Geiste - so greift sie historisch angesichts der historischen Möglichkeiten zur materiellen Befreiung der Menschheit zu kurz und wird auch ihrem Begriff nicht recht.

(alle Seitenzahlen in: Marcuse, H., Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. München 1998)


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