Proletariat

 

Proletariat = ist diejenige Klasse der Gesellschaft, welche ihren Lebensunterhalt einzig und allein aus dem Verkauf ihrer Arbeit und nicht aus dem Profit irgendeines Kapitals zieht... (Engels, 1847, MEAW I, S. 335)

 

Marx heftete seine Hoffnung bereits Ende 1843 an das Proletariat als derjenigen Klasse, in der "alle Mängel der Gesellschaft konzentriert seien (Marx 1843/44, MEAW I, 21), die in "radikalen Ketten" liegt (ebenda, S. 24) und an der kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin verübt wird. Das Wichtigste jedoch war damals für Marx, daß das Proletariat erst entsteht, gleichzeitig in einem "allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht" und die sich nicht ohne allgemeine Emanzipation emanzipieren kann.

Daß dies nicht nur mit subjektiver Empörung zusammenhängt, sondern objektive Hintergründe dafür bestehen, spricht Marx zwei Jahre später deutlich aus:

"Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird." (Marx 1845, MEAW I, S. 114). Der objektive Hintergrund wird aber hier damit begründet, daß die "Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen in ihrer unmenschlichsten spitze zusammengefaßt sind" und weil es seine Lebensbedingungen nur aufheben kann, wenn es alle unmenschlichen Bedingungen der Gesellschaft aufhebt.

Engels beschreibt zu dieser Zeit "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" und betont, daß die englischen Arbeiter sogar die englische Nationalität in sich vernichtet hätten (MEAW I, S. 166).. Dem Arbeiter sei kein einziges Feld für die Bestätigung seiner Menschheit gelassen als die Opposition gegen seine ganze Lebenslage.

Wiederum zwei Jahre später betont er die wachsende Konzentration und damit Macht des Proletariats bei fortschreitendem Elend und daraus folgender "allgemeiner revolutionärer Aufregung" (Engels 1847, MEAW I,S. 342).

Die letztliche Triebkraft sah er in dem Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und dem Privateigentum, das die Aufhebung des Privateigentums möglich und notwendig werden läßt- das Proletariat übernimmt hier als Klasse die auch allgemein gestellte Aufgabe der Umwälzung Gesamtgesellschaft. (Die revolutionäre Klasse vertritt immer das Allgemeininteresse.) Als Hintergrund der Formierung des Proletariats als revolutionäre Klasse betonte er auch die Notwendigkeit der entwickelten Maschinerie (für Konzentration und Nivellierung). (MEAW I, S. 358).

 

Später bezeichnet Engels den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung (MEW 19, S. 219) - der auch im "ML" als Grundwiderspruch des Kapitalismus genannt wurde. Diese Formulierung impliziert aber, daß die Art und Weise der Produktion ganz in Ordnung wäre, nur die Aneignung falsch erfolgte. Mit der Weiterführung bei Engels "Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschweise" vernachlässigt er die grundlegende Erkenntnis von Marx, daß es gerade nicht nur die Zirkulationsebene ist, auf der Probleme bestehen, sondern die gesamte Produktionsweise (inclusive Zirkulation) das Fundament der Gesellschaftsform ist.

 

Vor dem Hintergrund der "gewaltigen Produktions- und Verkehrsmittel", die die moderne bürgerliche Gesellschaft hervorzauberte, aber nicht mehr zu beherrschen vermag (MEW 4, S. 467) beleuchten Marx und Engels nun im "Manifest der kommunistischen Partei" (1848) die Entwicklung des Proletariats genauer. Vom Kampf gegen die Reste der feudalen Gesellschaft über die vereinzelten Kämpfe gegen einzelne Unternehmer und Produktionsinstrumente bis zur Organisation als Klasse, die durch Konzentration, Angleichung der Lebensinteressen und gedrücktes Lohnniveau befördert werden soll (MEW 4, S. 470) nähert sich der Klassenkampf schließlich der Entscheidung...

 

Es ist schon konsequent, daß nicht "Produktivkräfte" die Geschichte vorantreiben, sondern das dies nur lebendige Menschen können. Deshalb erscheinen als Widersprüche nicht nur Kräfte und Verhältnisse - sondern typische Menschengruppen, eben die Klassenverhältnisse auf politischer Ebene.

Auf politischer Ebene sieht Marx wesentlich einen Gegensatz - ein Widerspruch sei nur gegeben beim "Zusammenstoß Man gegen Mann" (MEW 19, S. 182).

 

Das Proletariat ist dann die Klasse, die wirklich revolutionär ist, weil sie ihre gesellschaftlichen Produktivkräfte nur erobern kann, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise abschafft (ebenda, S. 472).

Die Kämpfe des Proletariats entsprechen Prinzipien, die "Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse" (S. 475) sein sollen.

In dialektischer Sprache beschreibt Engels später (1882), daß die Lohnarbeiter den Gegensatz zum Bürgertum darstellen (MEW 19, S. 190). Die hier ausführlich dargestellte dialektische Methode führt Engels zur Erkenntnis des Sozialismus "als notwendige(s) Erzeugnis des Kampfes zweier geschichtlich entstandnen Klassen, des Proletariats und der Bourgeoisie" (ebenda, S. 208).

In einem anderen Zusammenhang beschreibt Marx, daß "eine unterdrückte Klasse ... die Lebensbedingung jeder auf den Klassengegensatz begründeten Gesellschaft (ist). Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein." (MEW 19, S. 181)

Marx und Engels konnten noch hoffen, daß aus der konkreten Lage das Klassenbewußtsein der Arbeiter selbst direkt erwächst. Schon Lenin ergänzte dann eine notwendigkeit, das Klassenbewußtsein in die Arbeiterklasse hineintragen zu müssen.

Dahinter steckt die Problematik, daß mindestens zwei Bedingungen gegeben sein müssen:

  1. Die Arbeiter müssen eine andere Existenz als die ihnen vom Kapital aufgezwungene wollen,
  2. diese Existenz muß in den von ihnen als Kapital produzierten Produktivkräften objektiv vorhanden sein (Pohrt, S. 132).

"Beide Bedingungen aber setzt das Kapital nicht, sondern es setzt sie nur voraus, und es setzt sich selbst in Gegensatz zu ihnen." (ebenda).

Die erste Bedingung ist die entscheidende, an der es mangelt. In diesem Jahrhundert haben sich die Lebensverhältnisse der privilegierten Lohnarbeiter in den Industrieländern (auch im Vergleich und gegenüber den anderweitig ausgebeuteten Menschen in der ganzen Welt) so verändert, daß ihre Interessen weitestgehend mit denen des Kapitals übereinstimmen. Sie profitieren direkt vom Wohl und Wehe des Kapitals - eben weil sie gar keine andere Möglichkeit haben, Lebensmittel zu erzeugen. Statt die Lebensgrundlagen und Produktionsmittel in ihre Hände zu nehmen, profitieren sie von der Ausplünderung andere Menschen und der Natur. Sie folgen damit der "inneren Logik" der Kapitalentwicklung selbst.

Der Sprung in neue gesellschaftliche Zustände erfordert den Abbruch dieser Logik - ist aus der Entfaltung ihrer inneren Widersprüchen nicht automatisch gesetzt, sondern nur vorausgesetzt... (nur die Möglichkeiten entwickeln sich innerhalb des gegebenen Zustands gesetzmäßig).

Dieser Sprung muß weiter gehen, als ihn der versuchte Sozialismus begann. "Effektiv zu arbeiten" kann das Kapital am besten erzwingen - das kann keine führende Partei oder Ideologie ersetzen. "Die Arbeit ist hier wieder die Hauptsache, die Macht über den Individuen , und solange diese existiert, solange muß das Privateigentum existieren." (MEW 3, S. 50).

Der nächste Schritt besteht darin, den Zwang der angesichts hochproduktiver Kräfte von Mensch und Produktionsmitteln übermäßigen Arbeit zu reduzieren - die Zwangsläufigkeit des tradierten Arbeitsethos zu hinterfragen. Für den frühen Marx war es noch selbstverständlich, daß die "kommunistische Revolution... die Arbeit beseitigt" (MEW 3, S. 70) und "aufhebt" (ebenda, S. 77). "Die Proletarier (müssen), um persönlich zur Geltung zu kommen, ihre eigne bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen Gesellschaft ist, die Arbeit, aufheben." (MEW 3, S. 77).

W. Pohrt betont, daß es geradezu der Zweck kapitalistischer Arbeit ist, die Arbeit abzuschaffen (Pohrt, S. 163), weil sie die Grundlagen (Produktivkräfte) dafür entwickelt.

An anderer Stelle taucht bei Marx die Vorstellung auf, daß "die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." (MEW 3, S. 33). Dies deutet darauf hin, daß er zwar durchaus noch "arbeiten" will, aber selbstbestimmt und nicht mehr 10 Stunden lang von der Notwendigkeit (z.B. zur effektiven Berufsausfüllung) bestimmt.

Diese Kombination von Befreiung der Menschen von Zwangs-Arbeit zur Verwandlung der verbleibenden Arbeit in selbstbestimmte ist meiner Meinung nach eine sinnvolle Lösung der Frage "Befreiung von oder in der Arbeit", durch die Antwort: Beides: Aufhebung der Zwangsarbeit und dadurch Befreiung in der Arbeit. Nur dann kann die (veränderte/ von Zwang befreite) Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis werden (MEW 19, S. 21).

Damit ist aber die bisherige Identität der Proletarier/Arbeiter prinzipiell in Frage gestellt - und es wird fraglich, ob man von ihnen erwarten kann, diesen Weg zu schaffen (er ist nicht einmal einfach zu "wählen", weil er wie alles wirklich Neue erst aktiv geschaffen werden muß).

Aus dem Gegensatz des Proletariats gegen das Kapital schlossen Marx und Engels auf die politischen Widersprüche, die den Gegensatz zwischen Kapital(aneignung) und (gesellschaftlicher) Arbeit aufheben sollten. Es käme gar nicht darauf an, "was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen stellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird." (MEAW I, S.114 (MEW 2, 38))

Er war nicht gezwungen! Zur Befreiung kann man nicht gezwungen werden!!! Bisher finden alle Probleme, mit denen das noch privilegierte Leben des normalen Lohnarbeiters eben doch und immer mehr verbunden sind (Angst um das bisschen Beteiligung am Reichtum bis hin zur Existenzgrundlage...) leider durchaus genügend regressive und agressive Ventile und nicht etwa einen inneren Druck zur wirklichen Befreiung. Der Punkt, bis zu dem man all die Miseren der kapitalistischen Entwicklung vielleicht (!) noch mit ihrer historischen Rolle der Entwicklung der produktiven Kräfte zur Befreiung der Menschen von Zwangsarbeit und der Natur von fremden Mächten hätte rechtfertigen können, ist längst überschritten.

"Die Theorie sucht immer nach Gründen. Für die planmäßige Vernichtung von 6 Millionen Menschen, die noch nicht einmal zum Vorteil irgendeines Anderen ausgebeutet, sondern einfach nur vernichtet wurden, gibt es aber eine solche nicht." (Pohrt, S. 266). "Warum diese Entwicklung, zwei Weltkriege und der Faschismus inklusive, als Voraussetzung für einen Verein freier Menschen notwendig wäre, wüßte ich nicht zu sagen." (ebenda, S. 274)

Es gibt keinen Grund, uns noch länger zu fragen: "Sind denn die Produktivkräfte schon reif für den Kommunismus?". Im Gegenteil, sie werden immer mehr zu Destruktivkräften.

 

Engels, F., Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1844/45), in: Marx, Engels, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band I (MEAW I) , Berlin 1983
Engels, F., Grundsätze des Kommunismus (1847), Grundsätze des Kommunismus, in: Marx, Engels, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band I (MEAW I) , Berlin 1983
Marx, K., Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843/44), in: Marx, Engels, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band I (MEAW I) , Berlin 1983
Marx, K., Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1845), in: Marx, Engels, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band I (MEAW I) , Berlin 1983
Marx, K., Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 3, Berlin 1990
Marx, K., Engels, F.(1848), Manifest der Komministischen Partei, in: Karl Marx, Friedrich Engels Werke, Berlin 1959, Band 4, S. 459-493
Engels, F., Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: Karl Marx, Friedrich Engels Werke, Berlin 1962, Band 19, S. 189-228
Pohrt, W., Theorie des Gebrauchswerts, Berlin 1995



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