Das Höhlengleichnis

In seiner Politeia diskutiert Platon die Möglichkeit einer idealen Staatsordnung. Bei der Frage, ob und wie die Menschen gebildet werden können, verwendet Platon ein Gleichnis, das berühmte Höhlengleichnis. Es geht darum, ob und wie der Mensch die Wahrheit erkennen kann (Platon, S. 301ff.).
"Stelle dir Menschen vor in einer unterirdischen Wohnstätte... von Kind auf sind sie in dieser Höhle festgebannt. ... (sie) sehen nur geradeaus vor sich hin... von oben her aber aus der Ferne von rückwärts erscheint ihnen ein Feuerschein; zwischen dem Feuer aber und den Gefesselten läuft oben ein Weg hin, längs dessen eine niedrige Mauer errichtet ist... Längs dieser Mauer... tragen Menschen allerlei Gerätschaften vorbei...
Können solche Gefangenen von sich selbst sowohl wie gegenseitig voneinander gesehen haben als die Schatten, die durch die Wirkung des Feuers auf die ihnen gegenüberligende Wand der Höhle geworfen werden? ... Durchweg also würden die Gefangenen nichts anderes für wahr gelten lassen als die Schatten der künstlichen Gegenstände.
(Bild ganz links unten)
Wenn einer von ihnen entfesselt und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzuwenden, ... nach dem Lichte emporzublicken... Und wenn man ihn nun zwänge, sein Licht auf das Licht selbst zu richten, so würden ihn doch seine Augen schmerzen... Wenn man ihn nun aber von da gewaltsam durch den... Aufgang aufwärts schleppte und nicht eher ruhete, als bis man ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, würde er diese Gewaltsamkeit nicht schmerzlich empfinden und sich dagegen sträuben?... Zuletzt dann würde er die Sonne, nicht etwa bloß Abspiegelungen derselben im Wasser ... in voller Wirklichkeit ... schauen und ihre Beschaffenheit zu betrachten imstande sein...
(Bild Mitte unten)
Wenn ein solcher wieder hinabstiege in die Höhle und dort wieder seinen alten Platz einnähme, würden dann seine Augen nicht förmlich eingetaucht werden in Finsternis. Und wenn er nun wieder... wetteifern müßte in der Deutung jener Schattenbilder, ... würde er sich da nicht lächerlich machen und würde es nicht von ihm heißen, sein Aufstieg nach oben sei schuld daran... und schon der bloße Versuch, nach oben zu gelangen, sei verwerflich?...
(Bild rechts unten)"

(Abbildung aus: Osborne, Philosophie - Eine Bildergeschichte für Einsteiger)

Platon bezieht dieses Gleichnis in seinem folgenden Text auf folgende Analogie:

Wohnstätte der Gefesselten in der Höhle

= durch das Gesicht uns erscheinende Raumwelt

Lichtschein des Feuers

= Kraft der Sonne

Aufstieg nach oben und Betrachtung der oberen Welt

= Erhebung der Seele in das Reich des nur Denkbaren

Dies ist ein Modell der Platonischen Erkenntnistheorie, in der im Bereich des nur Denkbaren die Ideen das Wirkliche der Welt sind und die uns erscheinende Raumwelt nur Schattenbilder dieser Ideen darstellen.

Aber auch für das Leben derer in den Höhlen und derer, die das Licht geschaut haben, ergeben sich Konsequenzen:
"Wundere dich nicht, daß diejenigen, die zu dieser Höhe gelang sind, keine Neigung verspüren, sich den menschlichen Alltagsgeschäften zu widmen; sondern ihre Seelen fühlen sich immer getrieben, dort oben zu verweilen....
Scheint es dir verwunderlich, wenn einer, der von den göttlichen Anschauungen her in das menschliche Jammertal herabkommt, haltungslos ist und sich recht lächerlich ausnimmt, wenn er, noch getrübten Blicks und noch nicht wieder genügend an die hiesige Finsternis gewöhnt, sich genötigt sieht, in Gerichtshöfen oder anderswo um die Schatten der Gerechtigkeit zu streiten ..."
In unserem Gespräch verwies eine Teilnehmerin auf die Verurteilung des Sokrates , die in diesem Kontext verstanden werden kann.

Daß auch unser Leben sich im Allgemeinen doch nur in der Höhle abspielt, verdeutlicht Sautet:
"Das menschliche Dasein ist so beschaffen, daß die meisten Menschen die Höhle niemals verlassen werden." (Sautet, S. 294)
Die meisten Menschen merken nicht, daß sie im Reich der Schatten leben, weil sie sich den Bedürfnissen ihrer Körper unterwerfen. Und daß sie immer tiefer hineingeraten, rührt daher, daß sie die Gesetze der Geschichte nicht kennen. Das Volk meint, seine Gelüste befriedigen zu können, wenn es die Macht hat, sich selbst zu regieren. Es versteht nicht, daß es sich in einer Situation befindet, die das Ziel, das es sich steckt, untergräbt. Während es frei zu sein wähnt, ist es mehr denn je Gefangener der Verhältnisse...." (Sautet, S. 293)
...

Ist das Dasein nicht ein schlechtes Stück, in dem wir die meiste Zeit keine Rolle spielen, es sei denn die des Zuschauers? Verharren wir angesichts eines Schattenspiels meist nicht in kindischer Tatenlosigkeit? Vor allem im Zeitalter des Fernsehens?... Ob es sich nun um "Fiktionen" oder um "Nachrichten" handelt, wir sind weniger den je in der Lage, uns den Bildern zu entziehen, die vor unseren Augen vorüberziehen. Im übrigen übertrifft die Realität häufig bei weitem die Fiktion... Überdies ist der Zuschauer inzwischen "verkabelt" und das Angebot an Bildern so groß, daß es möglich geworden ist, ständig ein fremdes Leben zu führen. Wozu also dem Realen Bedeutung beimessen? Warum gegen die Trivialität des Alltags ankämpfen, wenn das Paradies in der Künstlichkeit liegt? Platon hatte es genau gesehen: die Gefangenen leiden nicht mehr an ihren Ketten - sie erfreuen sich ihrer sogar....

 

 

Literatur:
Platon, Der Staat, Leipzig 1988
Sautet, M., Ein Café für Sokrates. Philosophie für jedermann, Düsseldorf/Zürich 1999


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