Probleme bei der Ableitung von Perspektiven

Ein "gesetzmäßiger Sieg" des Guten ist in der Geschichte nicht festgeschrieben. Allerdings können wir unser Wissen über Trends und Möglichkeiten nutzen, um unsere Aktivitäten möglichst effektiv und sinnerfüllend einzusetzen.

Wir haben einerseits Kenntnisse über allgemeine Muster und Prinzipien der Evolution (Schlemm 1996, S. 180ff.) und andererseits Wissen über konkrete Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung (Kapitel 4). Auch wenn wir daraus keine gültige Prognose erstellen können, gibt uns die Kombination dieses Wissens Orientierungen für das eigene Handeln.

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Selbstorganisierte Entwicklung beruht darauf, daß sich während reproduktiver zyklischer Prozesse die äußeren und inneren Bedingungen laufend ändern. Dadurch entfernt sich das System (kosmisches Objekt, Organismus, Population, Individuum, Gruppe, Gesellschaft...) immer mehr vom stabilen Bereich seiner Reproduktion. Kleine Veränderungen und innere und äußere Differenzierungen werden im stabilen Bereich "herausgemittelt". In der Weiterführung der Bedingungsveränderung gelangt das System schließlich zu einer Stelle, an der sein bisheriges Fließgleichgewicht stark destabilisiert ist ("sensible Phase" am "Bifurkationspunkt", wenn lt. Hegel das "Maß" der bisherigen Grundqualität erreicht ist). Jetzt werden einige der kleinen Differenzen zu wesentlichen Unterschieden. Aus ihnen entstehen neue Systemgesetze, neue Qualitäten (ausführlicher siehe Schlemm 1996, S. 199ff.).

Allgemeine Strukturkonzepte wie System- und Selbstorganisationstheorien können jetzt keine Aussage dazu treffen, welche Differenzen und Unterschiede zu Gegensätzen und Widersprüchen werden. Dialektische Philosophie als Rahmenkonzept betont jedoch, daß Veränderungen und Neues nur aus konkret bestimmten Verhältnissen erwachsen können. Deshalb können allgemeine Konzepte nur allgemeine Muster angeben (wie in Schlemm 1996, S. 195f.).

Dieser methodische Einschub könnte praktisch unwichtig sein, wenn er uns nicht auf ein wichtiges Prinzip hinwiese:

Wir können theoretisch, das heißt allgemein durchaus wesentliche Grundtendenzen des (jeweils historisch begrenzten) Realen ableiten (Wesen des Kapitalismus: Wert-Vergesellschaftung, Profitorientierung, Widerspruch Lohnarbeit-Kapital). Jedoch führt uns diese allgemeine Theorie (des historisch Begrenzten) niemals aus sich heraus auf die Potentiale des Überschreitens des Systems, für das sie gilt.

Das Überschreitende ist nicht theoretisch ableitbar! (oder erst aus der Theorie des Darauffolgenden, Entstehenden, Neuen). Es entsteht gerade aus dem Konkreten, welches einer neuen, umfassenderen Allgemeinheit entspricht. Es widerspricht dabei notwendig dem herrschenden begrenzten Allgemeinen (vgl. Schlemm 1998 nach Marcuse 1998).

Das herrschende Allgemeine ist im Kapitalismus geradezu vollständig als "Sachzwang" wirksam. Gesellschaftliche Vermittlungen vollziehen sich primär über (ökonomische) Werte. Gleichzeitig jedoch wird die Differenz zu den qualitativ bestimmten Voraussetzungen dieser Produktions- und Lebensweise zu einem immer schärferen Widerspruch (zweiter Grundwiderspruch neben Kapital-Arbeit-Widerspruch nach 0`Connor). Die Wertvergesellschaftung gerät in Widerspruch zu ihren qualitativen Voraussetzungen, die sie selbst zerstört.

Auch die Globalisierung als allgemeiner Trend der gesellschaftlichen Entwicklung erzeugt Widersprüche im Lokalen - wo sich dann auch direkt Widerstände formieren.

Die Herrschaft der abstrakten Arbeit erzeugt mit dem Ende ihrer teilweise progressiven Wirkung auf die Produktivkraftentwicklung überschießende konkrete Entwicklungstendenzen, die der konkret bedürfnisbefriedigenden Tätigkeit Möglichkeitsräume öffnen (New Work).

Die modernen Organisations- und Managementprinzipien, die auf Flexibilität und Dezentralität setzen, mögen vorerst lediglich Profitmaximierungsstrategien unterworfen sein. Notwendigerweise erzeugen sie jedoch Fähigkeiten und Bedürfnisse bei den Menschen, die über die herrschende Lebensweise hinausweisen.

Es ist nicht utopisch, aus unscheinbaren, den herrschenden Prinzipien und Werten entgegenstehenden Ansätzen eine größere Hoffnung auf eine andere Lebensform abzuleiten.

"Echter Realismus zieht in seine Betrachtungen nicht nur das ein, was deutlich sichtbar ist, sondern auch das was als Antwort auf unabdingbare Notwendigkeiten im Schoße der Gesellschaft erst heranwächst" (Jungk 1990, S. 14).

Insofern haben auch reformerische Ansätze die Potenz in sich, ihre ursprünglichen reformistischen Horizonte selbst zu sprengen. Ihre Dynamik ist unaufhaltsam, wenn ihre progressiven Ansätze im selbstorganisierten Handeln der Menschen zu einer Veränderung der Grundsätze menschlichen Handelns führen (Einheit der Veränderung der Umstände und der verändernden Menschen). Mögen auch Unternehmer und konservative Politiker das Konzept NEW WORK vielleicht mit dem Ziel unterstützen, eine neue sich selbst ausbeutende Unternehmer- und Eigenarbeiterschaft zu erhalten - die Menschen erleben hier oft erstmals, was es heißt, etwas Selbstgewähltes "wirklich, wirklich" zu wollen. Und dieses Erleben wird sie die Grenzen der Profitwirtschaft überwinden lassen.

Dies vollzieht sich aber nicht im Selbstlauf, sondern erfordert, daß bei allen derartige Prozesse die Horizonte und Grenzen deutlich gemacht werden, daß sie bewußt über das Vorhandene hinausgeführt werden. Dies darf jedoch nicht unter der Führung von wenigen "weitsichtigen" Menschen geschehen, sondern erfordert das Herstellen von Bedingungen für die Selbstorganisation der Menschen.


- Aus dem Manuskript des zweiten Bandes zum Buch:
"Daß nichts bleibt, wie es ist..." - Perspektivenkapitel, Stand: Januar 1999 - Literaturangaben in diesem Buch -

 

 

Zu Perspektiven siehe auch:

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