Aktueller politischer Widerstandskampf und
Rosa Luxemburgs Ansichten über Spontaneität und Bewußtsein

Vortrag auf der Herbsttagung der Ernst-Bloch-Assoziation
"Kritik, Ironie und tiefere Bedeutung" – Zum Werk Rosa Luxemburgs aus heutiger Sicht
in Berlin, 18. - 21. Oktober 2001


 
INHALTS-
ÜBERSICHT

Organisationsfrage

Verhältnis
Theorie - Praxis

1. Nach Genua

1.2. Die Organisationsfrage
       1.2.1. Organisationen
       1.2.2. Aktionsformen
1.3.Aktivismus ohne Orientierung?

2. Zurück zu Luxemburg

2.2. Zum Verhältnis Masse-Klasse-Partei 2.3. Zum Verhältnis
       Theorie – Praxis
3. ... wie weiter?

3.2. Wie wir uns selbst organisieren 3.3. Offene Theorie und Praxis

 
1. Die Weltrevolution hat begonnen und wir verschlafen sie...
1.1. 100 Jahre nach Luxemburg

Als ich dieses Jahr aus einem sehr schönen Urlaub wieder kam und mich wieder über die Bücher setzen wollte – wurde ich beim ersten Zeitungsüberfliegen aufgeschreckt von der Meldung, dass ein Demonstrant bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua erschossen worden war – Genua, das ich im vorigen Jahr im Rahmen des Ernst-Bloch-Assoziationstreffens kennen lernen konnte.

1918

2001

Und niemand sollte denken, dies könne nur in Italien geschehen. Auch in der Rudolf-Breitscheid-Straße in Berlin wurde ein halblegalisiertes Haus von der Polizei geradezu überfallen, nachdem es von rechten Hooligans angegriffen worden war (Stade).

Die Proteste gegen Weltwirtschaftsgipfel, NATO-Treffen, Weltökonomentreffen usw. sind seit wenigen Jahren zum deutlichen Zeichen für einen Neuaufschwung weltweiter Protest- und Widerstandsbewegungen gegen die kapitalistisch bestimmte ökonomische Weltherrschaft geworden.

Diese Bewegungen sind nicht mehr Klassenkämpfe alten Stils, sie gehen auch über die ein-punkt-orientierte Bewegungen der Friedens-, Frauen- oder Ökologiegruppen hinaus. 10 Jahre nach dem Ende des Realsozialismus steht wieder der Kapitalismus als System im Zielfeuer der Kritik, des Protestes und des Widerstands. Und wie immer beginnt nur eine Minderheit – aber immerhin.

1.2. Die Organisationsfrage

Wenn man die Luxemburg-Schriften liest, kann man schon traurig werden angesichts der aktuellen Lage. Während sich vor 100 Jahren die proletarische Bewegung selbstbewusst auf dem Vormarsch sehen konnte, entstehen die heutigen Proteste aus einem Gefühl des "Mit-dem-Rücken-zur-Wand-Stehens" und lassen die meisten Menschen der entwickelten Industrieländer sehr kalt. Nachdem die Linken auseinandergebröckelt sind und auch andere alternative Ansätze, der 3. und vielen anderen Wege sich nur durch ökonomische Anpassung in kleine Nischen klammern können, war um die Jahrtausendwende der Tiefpunkt wirklich erreicht. Es hätte immer noch schlimmer kommen können. Meine Bilanz hätte vor 3 Jahren noch viel schlechter ausgesehen als heute.

Inzwischen gibt es aber wenigstens die schon erwähnten neuen Protestbewegungen. Das Augenmerk – besonders in Deutschland – bleibt oft von der brutalen Polizeigewalt gefesselt. Was aber bleibt nach dem Verheilen der Wunden?

Neue Bewegungsstrukturen entstehen. Sie realisieren neue Prinzipien:

  • keine Macht für niemand, d.h.
  • gegen alle Herrschaftsformen (Kapitalismus, Rassismus, Patriarchat...) gerichtet
  • gegen interne Dominanzen.

1.2.1. Organisationen

Die neuen Bewegungen geben bekannte und effektive Organisationsformen bewusst auf. Weder Diktatur noch demokratischer Zentralismus haben eine Chance. Das Ergebnis sieht verwirrend aus für ein Denken, das in den früheren klaren Strukturen verankert ist. Chaos, Verwirrung, teilweise uneffektive Organisierung usw. werden von außen kritisiert – aber auch in der Bewegung selbst als Manko wahrgenommen. Was passiert dann? Meistens kein Rückgriff auf alte, überholte Formen von Organisation. Auch die reine Basisdemokratie oder Konsensorientierung werden nicht mehr als Allheilmittel gegen Dominanzen verwendet. Auch in verschiedenen gruppenpsychologisch ausgetüftelten Methoden werden die damit verbundenen manipulativen Möglichkeiten sehr kritisch betrachtet. Wir nehmen wirklich die Mühe auf uns, gänzlich neue Formen der Selbst-Organisierung zu erfinden.
In Deutschland gibt es nur ganz schwache Versuche dazu. Mehr gibt es aus anderen Regionen zu berichten.
Einige Knotenpunkte in der allgemeinen Vernetzung möchte ich nennen:

Attac (www.attac-netzwerk.de)
Eins der internationalen Bündnisse gegen Globalisierung ist Attac, das sich als Teil der internationalen Proteste versteht. Die Reichweite der Forderungen von Attac ist jedoch sehr begrenzt. "Durch internationale politische Regulierung könnten die entfesselten Marktkräfte so weit gezähmt werden, dass ihr destruktives Potenzial eingedämmt wird." Durch diese inhaltliche Zahmheit ist es einfach für viele BürgerInnen, ihr Unbehagen und schlechtes Gewissen durch eine Unterstützung oder Mitgliedschaft bei Attac zu beruhigen, ohne sich radikalen Fragestellungen auszusetzen.

Peoples Global Action – PGA (siehe www.agp.org)
Die weltweiten Aktionstage gegen Neoliberalismus und Herrschaft seit 1999 sind von einem Netzwerk von Aktionsgruppen, der Peoples Global Action, ausgegangen.

PGA entstand auf Initiative u.a. der mexikanischen Zapatistas, die einen revolutionären, teilweise auch bewaffneten Kampf führen, um Herrschaftsverhältnisse zu bekämpfen und den Menschen einen den Freiraum zu erkämpfen, sich selbst zu organisieren.
PGA versucht ein grundlegend dezentrales Konzept umzusetzen, in dem alle Aktivitäten nur von den Basis- und freien Projektzusammenhängen ausgehen, die sich frei bilden können. Es gibt ein Grundsatzprogramm mit folgenden Schwerpunkten:

  • Ablehnung der WTO und der anderen Abkommen zur Handelsliberalisierung
  • Ablehnung aller Formen und Systeme von Herrschaft
  • konfrontative Grundhaltung (Unterschied zu Attac)
  • Orientierung an gewaltfreiem zivilen Ungehorsam.

Ya Basta (www.yabasta.it)

Ya Basta ist ein Netzwerk von Gruppen, die sich mit dem Aufstand der Zapatistas in mehreren Städten Italiens gebildet haben. Dieses Netzwerk orientiert sich an den Zapatistas: "Die Zapatistas haben einen wichtigen Beitrag geleistet, mit ihren Ideen Politik zu machen, ohne um die Macht zu kämpfen. Wir versuchen diese Botschaft zu übersetzen und unsere eigene Ausdrucksform zu finden." Und weiter: "Mit gewaltfreien Mitteln der Direkten Aktion, bleibt die Sprache der Gewalt auf die Seite der Polizei und des Staates. Klassische Demonstrationen beeindrucken sie nicht mehr, jetzt sind wir als BürgerInnen ungehorsam, sie schlagen zurück, aber wir verteidigen uns. Das zieht die Aufmerksamkeit der Menschen und gibt unserem Protest Echo"

Und in Deutschland?
Die Organisierungsbestrebungen in Deutschland sind wesentlich weniger fortgeschritten als in Italien. Der Trend geht auch nicht mehr in Bewegungen des Typs der 70er und 80er Jahre, die sich an Basisdemokratie und Konsens orientierten. Auch in Deutschland wird der Sinn des Protestes und Widerstands nicht mehr in "Latschdemos" gesehen. Die ersten neuen radikalen Ansätze entstanden in der Anti-Expo-Bewegung und während des Weltwirtschaftsgipfels in Köln 1999. Einzelne Personen oder Gruppen beteiligen sich auch an den internationalen Protesten, jedoch nicht als kohärenter Zusammenhang, wie z.B. Ya Basta in Italien. Das liegt aber nicht primär an dem Nichtvorhandensein des Zusammenhangs – sondern an der Schwäche bzw. der Nichtexistenz von regionalen oder Fach-Basisgruppen. Nur starke Gruppen können sich vernetzen. Ein Netz ohne regionale Gruppen hat keinen Sinn.

Im Internet gibt es inzwischen eine weitreichende Vernetzung vieler Aktivitäten – die allerdings zu oft von Einzelpersonen getragen wird und zu wenig von relativ stabilen Basisbezugsgruppen. Eine gewisse Unverbindlichkeit des Umgangs miteinander macht Verantwortungswahrnahme "von unten" her fast unmöglich. Viele Jahre ziemlicher Unorganisiertheit lassen manche ungeduldig werden. Deshalb gibt es inzwischen wieder eine Bereitschaft, auch Führungen zuzulassen. Obwohl "Linksruck" als Organisation meiner Meinung nach nicht gerade ein Beispiel für die empfehlenswerteste Organisierung ist, werden anhand der Diskussionen um Linksruck die Fragestellungen besonders deutlich.

Linksruck (www.linksruck.de)
Linksruck ist oft im Gerede unter jungen Linken. Man hört und sieht recht viel von ihnen. Sie verteilen bei fast allen Aktionen Flugblätter, ärgern andere, indem sie bunte Demonstrationszüge mit ihren Plakaten fast vereinnahmen und sie sind sehr stolz auf ihren tatsächlich oder angeblich großen Mitgliederzuwachs. Gleichzeitig hört und liest man aber auch mindestens genau so oft Kritik an ihrem Auftreten und ihrer Organisationsform. Im Internet nennen sie sich "Strömung", aus internen Gesprächen ist bekannt, dass sie zwar keinen Zentralrat, aber einen "Strömungsrat" haben und sie bekennen sich zum demokratischen Zentralismus. Den beschreiben sie mit "Einheit in der Aktion. Debatte zwischen den Aktionen." Das gemeinsame Auftreten richtet sich dann nach der Mehrheitsmeinung.

Durch Linksruck wurde nach vielen Jahren, in denen Zentralismus als gewollte Methode völlig unten durch war, wieder einmal über die Rolle von Führung und zentraler Organisation diskutiert. Die Befürworter einer für längere Zeit gewählten Führung meinten, anders sei eine Organisation nicht wirksam. In der Diskussion fanden sie aber nur einzelne Beispiele, bei denen die Führung wichtig gewesen wäre. Das klang dann eher so, dass die Notwendigkeit der Führung vorausgesetzt wurde und dann nach Beispielen gesucht wurde, wo sie ganz nützlich gewesen sei. Auf Grundlage einer vorausgesetzten Form wurden die Inhalte gesucht – nicht umgekehrt.

X-1000-mal-quer (www.x1000malquer.de)
Aus der Anti-Atom-Bewegung möchte ich kurz das Konzept von X-1000-mal-quer vorstellen. Als Aktionsform wird hier der gewaltfreie Widerstand – im allgemeinen als Sitzblockade auf der geplanten Strecke des Castortransports gewählt. Obwohl das Sich-Hinsetzen an einem nicht dafür vorgesehenen Ort eigentlich lediglich eine Ordnungswidrigkeit ist, erfordert es in der konkreten Situation doch einigen Mut der Beteiligten und Koordinierung. Deshalb werden bereits vor der Blockade Gruppen gebildet, in der mindestens eine/n Sprecher/in gewählt wird. Weil es hier um tausende Beteiligte geht, werden wichtige Entscheidungen dann oft in den SprecherInnenrat verlagert. Es gibt verschiedene Erfahrungen und Meinungen mit dem Grad der Demokratie dieses Verfahrens. Mir gefällt besonders gut ein Vorgehen der Kampagne "X-100-ma-quer": Um sie zu unterstützen, muss ich nicht unbedingt selbst ins Wendland fahren und mich den Polizeiknüppeln aussetzen. Es gibt abgestufte Möglichkeiten, sich als UnterstützerIn zu betätigen – und jede Unterstützung wird als gleich wichtig angesehen. 20% der Beteiligten im Wendland werden für die Organisation der Infrastruktur benötigt. Rechts- und Finanzhilfe für die verschiedenen juristischen Scharmützel werden auch benötigt und halten den anderen Akteuren den Rücken frei. Diese Differenzierung der Beteiligung ermöglicht meiner Erfahrung nach die Beteiligung von vielen und ermutigt zum Hinweinwachsen in die Struktur.

1.2.2. Aktionsformen

Tutte Bianches
Die Tutte Bianches sind bekannt seit den Protesten gegen den IWF/Weltbankgipfel in Prag und entstanden während Mobilisierungen gegen Abschiebeknäste in Italien. Sie blieben nicht beim harmlosen Demonstrieren, sondern waren entschlossen, in den Abschiebeknast einzudringen. Dazu mussten sie sich natürlich auf Auseinandersetzungen mit der Polizei einlassen. Dazu "polsterten" sie ihre Kleidung und kleideten sich symbolisch in Weiß. Sie sagen: "Wir sind nicht bewaffnet, wir agieren als Menschen und setzen unsere Person ins Spiel. Wir fürchten uns vor der Polizeigewalt, deshalb schützen wir uns."

Ich will nicht verschweigen, dass es gegen die Akteure von Tutte Bianche auch Vorwürfe gibt, sie würden am sozialen Ausverkauf der sozialen Zentren mitmachen, sich sogar mit der Polizei abstimmen und gegen andere Autonome, Anarchisten und revolutionäre Kommunisten agieren. Das ist von hier aus nicht einzuschätzen – aber ich denke, es wäre sowieso falsch, eine der neuen Aktionsformen und –bewegungen als absolut und unfehlbar vorzustellen. Es geht um neue Richtungen und Tendenzen. Dazu gehört auf jeden Fall das Konzept der Direkten Aktion.

Direkte Aktion
Direkte Aktion sagt es schon im Namen: Es geht um Aktionen ohne Vermittler auf der Grundlage nichthierarchischer Kommunikation. Dabei sollen in direkten Aktionen die Ziele durch die jeweils gewählten Mittel selbst deutlich werden. Was heißt das konkret? Beispielsweise reicht es nicht aus, durch einen Sitzstreik im Sinne des zivilen Ungehorsams die Mächtigen dazu zu bringen, eine Entscheidung zu ändern – denn damit würde das Recht der Mächtigen, diese Entscheidung zu fällen, anerkannt. Auch die Proteste in Seattle und Genua werden aus dieser Sicht eher kritisiert: Widerstand vor Ort sei angemessener.

Tendenziell zielt die Direkte Aktion auf "libertäre soziale Revolution: die Übernahme, Neuorganisation, Transformation und Zerstörung (dort, wo sie nicht den menschlichen Zielen dienen) der Produktionsmittel (die die materiellen Werkzeuge der Freiheit sind) durch die Arbeiterklasse und die Entwaffnung der Kräfte, die die alte Ordnung beschützten." (Beyer-Arensen 2000).

Kommunikationsguerilla (www.contrast.org/KG)
Die sonst auch bei Linken übliche Agitation und Überzeugungsarbeit beruht auf einer Informationsübertragung "von oben nach unten". Kommunikationsguerilla dagegen löst dieses Muster auf. Sie ist die politische Praxis der Mediensabotage bzw. –piraterie. Dabei werden Botschaften und Codes der Kommunikation so entwendet und entstellt, dass Herrschaft aufgedeckt und unterlaufen wird. Ihre grundlegenden Prinzipien sind Verfremdung oder Überidentifizierung. Das beliebte Tortenwerfen gehört auch hierzu. Verstecktes Theater nach dem "Theater der Unterdrückten" ebenfalls.

1.3.Aktivismus ohne Orientierung?

Diese Protestbewegungen sind einerseits typische "spontane" Bewegungen, aber nicht nur. Sie sind andererseits nicht uninteressiert am Denken und an Vernunft, aber sie entwickeln keine Theorie alten Typs.
Aufgrund des geringen Alters der Akteure ist Wissen über alte und neueren Theorien eher bruchstückhaft vorhanden, eine gezielte Bildungsarbeit ist selten. Die Kritik am herrschaftlichen System ist einerseits radikal – andererseits bezieht sie sich oft auf nur oberflächliche Erscheinungen. Weit verbreitet ist die Orientierung der Aktivisten an dem Buch "No Logo!" von Naomi Klein. Hier untersucht eine Journalistin, wie moderne Konzerne nur noch am Namensrecht an ihren Marken verdienen, die Verantwortung als Arbeitgeber jedoch an Unterauftragnehmer abgeben und damit brutalster Ausbeutung in den sog. "Freihandelszonen" Vorschub leisten. Da diese Konzerne gleichzeitig sehr von ihrem Markenimage abhängen, schlägt Naomi Klein symbolische Angriffe auf dieses Image mit geeigneten Kampagnen als Kampfmittel vor. Inwieweit die direkten Proteste gegen Weltwirtschaftsgipfel und ähnliches strategische Ziele verfolgen und nicht nur als symbolischer "Wutableiter" dient, ist auch eher ungeklärt.

Trotzdem sollten wir nicht nur die aus theoretischer Sicht unbefriedigende Situation wahrnehmen. Wir dürfen nicht übersehen, dass neue Formen des Ausdrucks der Reflexion wie Musik, Film und Theater heute eine viel stärkere Rolle spielen als früher.

Utopisches Denken in dieser Bewegung – dazu habe ich eine Umfrage gemacht – erhält ihre Impulse viel mehr von guten Kinderfilmen und -büchern wie Ronja Räubertochter als von einem Wissen über historische Gesetzmäßigkeiten, oder Tagträumen oder der Lektüre von Ernst Bloch. Bloch ist übrigens in dieser Szene kulturell nicht verankert, was ich immer schade finde. Bekannt – und kritisiert - ist von ihm eigentlich nur seine Begrüßung der Kerntechnik.

Bezüglich der Strategie des weiteren Vorgehens allerdings – konkret gesprochen, der Revolutionstheorie – stehen wir 100 Jahre nach Luxemburg eigentlich weit hinter den damaligen Erkenntnissen. Wir haben ja nicht einmal einige einigermaßen konsistent ausgearbeitete Konzepte, zwischen denen sich nun Streit und Kampf entwickeln könnte.

Die neuen internationalen Protestbewegungen sträuben sich – wie einst auch Rosa Luxemburg – berechtigt davor, ausgetüftelten Plänen folgen zu sollen – aber ihre eigene Strategieentwicklung begann bisher nur sehr zögerlich. Auf andere Linke bzw. sich links nennende Organisationen beziehe ich mich gar nicht erst. Meiner Beobachtung nach gab es bis 1990 auch aus dem Westen der Bundesrepublik, gerade in der Zeit der Ablösung vom dogmatischen "ML", die letzten konzeptionellen Fortschritte, die im wesentlichen eingefroren wurden durch die Beteiligung vieler Aktiver an der Tagespolitik der Grünen, der PDS oder dem Verfall vieler traditionell linker Organisationen insgesamt. Die Kluft zwischen denen, die von früher her ein hohes Maß theoretischen Wissens haben, die aber in der aktuellen tatsächlichen Bewegung nicht mehr beteiligt sind, und den vorwiegend sehr jungen Aktiven ist ziemlich groß. Wahrscheinlich ist so eine Art Generationswechsel auch notwendig. Er stellt eine Aufgabe. Neue Parteischulungen wird es nicht geben, keine Kapitalzirkel oder ähnliches. Wie tradiert die neue Bewegung ihre Erfahrungen, wie lernt sie dazu?

2. Zurück zu Rosa Luxemburg

2.1. Ein zerfleddertes Erbe

Zu Rosa Luxemburgs Zeiten waren bereits erste Bruchstellen mit dem allzu "glatten" Marxismus offensichtlich – eine kreative Weiterentwicklung war dringend notwendig. Rosa Luxemburg "warf ihre Gedanken in die Bewegung", wie Clara Zetkin es formulierte (nach Laschitza 1995, S. 24). Schon das Zusammensammeln dieser aufgeschriebenen Gedanken aus den bei Polizeiaktionen ausgeraubten Wohnungen war eine Leistung. Dieses Erbe wurde dann jedoch nur punktuell inhaltlich ausgewertet – eher diente es den Dogmatikern als negative Projektionsfläche für alles, was von ihrer "bolschewistischen Klarheit, Reinheit und Geschlossenheit in einer Partei neuen Typs" (Laschitza 1995, S. 28) abwich. Ernst Thälmann meinte klipp und klar: "In allen Fragen, in denen Rosa Luxemburg eine andere Auffassung als Lenin vertrat, war ihre Meinung irrig." (zitiert in Laschitza 1995, S. 32). Und 1951 schrieb Fred Oelßner in einer "kritischen biographischen Skizze": "Groß waren auch ihre Irrtümer und Fehler, die die deutsche Arbeiterklasse auf falsche Bahnen lenkten. Wir dürfen vor allem die Augen vor der Tagsache nicht verschließen, dass es sich nicht um einzelne Fehler handelt, sondern um ein ganzes System falscher Auffassungen (den "Luxemburgismus")" (Oelßner 1951, S. 7).

Der Vorwurf des "Luxemburgismus" bezog sich im Kern vorwiegend auf die angeblich von Rosa Luxemburg vertretene "Spontaneitätstheorie". Wilhelm Pieck betonte im Vorwort der 1951 in der DDR veröffentlichten "Ausgewählten Reden und Schriften" : Aber sie vertrat die verhängnisvolle Meinung, dass die Spontaneität der Massen entscheidend sei" - wogegen er gleich ein Lenin-Zitat gegen die "Anbetung der Spontaneität" zu zitieren wusste (Pieck 1951, S. 11). Schon

Kautsky hatte ihr Eintreten für den Massenstreik unter geeigneten Bedingungen als "fanatisch

und putschistisch" fehlinterpretiert (siehe Luxemburg 1913). Ich werde aber jetzt nicht diese alten Streitpunkte wieder durchkäuen, dazu gibt es genug Literatur. Ich will im Folgenden nur zwei inhaltliche, miteinander eng verbundene Punkte ansprechen: den des Verhältnisses von Masse und Führung und den des Verhältnisses von Theorie und Praxis.
Die Unterscheidung dieser beiden Aspekte ist aber wichtig um die Bedeutung dessen, was Rosa Luxemburg mit ihrer Betonung von spontaner Aktivität meint:
Rosa Luxemburg vertrat nicht etwa einen orientierungslosen, willkürlich agierenden Aktivismus. Sie wollte nicht etwa Spontaneität gegen Bewusstheit stellen – sondern nur gegen überzogene Machtansprüche einer sich die Führungsrolle anmaßenden Partei.

2.2. Zum Verhältnis Masse-Klasse-Partei

Zu Luxemburgs Zeiten und bis zum Ende dessen, was sich "real existierender Sozialismus" nannte, war der Anspruch, der Theorie mächtig zu sein und über die Kenntnisse der Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung zu verfügen die wesentliche Legitimation des Führungsanspruchs der kommunistischen Parteien. Die Ableitung des Führungsanspruchs der Partei aus dem besseren Wissen über die Gesetze der Gesellschaft und des Klassenkampfes findet sich im Kommunistischen Manifest und ebenfalls in Lenins Schrift "Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück".

Der Führungsanspruch im Allgemeinen wurde auch von Rosa Luxemburg nicht bestritten. Auch die Notwendigkeit von Einheitlichkeit und Zentralismus setzte sie voraus – sie fragte aber "nach dem größeren oder geringeren Grade der Zentralisation und nach deren näherer Beschaffenheit" (Luxemburg 1904, S. 426). Lenin fühlte sich hierdurch falsch verstanden – denn seiner Meinung nach kritisierte Rosa Luxemburg eine Art Zentralismus, die auch er nicht wollte.

Worum ging es Rosa Luxemburg? Sie befürchtete, dass die Organisation der Sozialdemokratie mit Lenin sich in die Richtung des Blanquismus entwickelt. Während in diesem Falle sich "die tätigen Mitglieder der Organisation naturgemäß in reine Ausführungsorgane eines außerhalb ihres eigenen Tätigkeitsfeldes im voraus bestimmten Willens, in Werkzeuge eines Zentralkomitees" verwandeln (Luxemburg 1904, S. 428), betonte sie die prozessuale Wechselseitigkeit von Kampf und Bewusstseinsentwicklung. Organisation, Aufklärung und Kampf sah sie als "verschiedene Seiten desselben Prozesses". Während Lenin das Verhältnis von Partei und Organisation der Arbeiterklasse als "Verbindung" beschrieb, betonte Rosa Luxemburg, dass sie "die eigene Bewegung" der Arbeiterklassen sein müsse. (ebd., S. 429) Ein von ihr als notwendig befundener Zentralismus besteht in der "gebieterischen Zusammenfassung des Willens der aufgeklärten und kämpfenden Vorhut der Arbeiterschaft ihren einzelnen Gruppen und Individuen gegenüber" (ebd., S. 429).

Lenins Urteil war hart. Er schrieb in einem in Deutschland erst 1949 in der SED-Zeitschrift "Einheit" abgedruckten Artikel: "... irgendeinen anderen Inhalt als die Rechtfertigung der Prinzipienlosigkeit wird man an der ganzen famosen Theorie von der Organisation als Prozess (siehe insbesondere der Artikel Rosa Luxemburgs) nicht finden, einer Theorie, die den Marxismus verflacht und prostituiert." (zit. in Oelßner 1951, S. 36).

Lenin warf Rosa Luxemburg vor, die konkreten, spezifischen Debatten, in denen er seine Aussagen z.B. über die "scharfen Waffen gegen die Opportunisten" machte, zu übersehen und sie als Allgemeine zu kritisieren. Lassen wir einmal offen, ob Lenin Luxemburgs Vorwürfe verdient hat. Paul Frölich schätzte ein, dass Lenin in seinen Entscheidungen taktisch elastischer war als er es in seinen Schriften befürwortet hat (Frölich 1967, S. 111). Seinen Nachfolgern fehlte die Elastizität – das Geschriebene wurde zum erstarrten Dogma.

Lenin meinte selbst dazu, er habe damals den Zentralismus auch bewusst übertrieben, weil die Gefahr der Anarchie besonders groß gewesen sei – wir finden hier sogar die Behauptung des "Bürokratismus als Prinzip der Sozialdemokratie".

1920, in den Organisationsthesen für die Parteien der III. Internationale, wurde der Zentralismus zum "demokratischen Zentralismus" mit Kritikfreiheit und Kontrolle der Parteileitung von unten angereichert – was sich aber z. B. bis in die Parteischulen der DDR nicht mehr in dieser Form herumsprach. Dass der Opportunismus nicht durch organisationspolitische Festlegungen, sondern von unten durch die lernende Arbeiterklasse selbst besiegt werden könnte, kennzeichnen Annelies Laschitza und Günter Radczun auch 1970 noch als Illusion (Laschitza, Radczun 1970, S. 176). In den Schriften über Rosa Luxemburg aus DDR-Zeiten wird immer wieder das Argument verwendet, die Geschichte hätte bewiesen, dass Lenins Ansatz richtig gewesen sei und Rosa Luxemburg sich geirrt habe. Heute zeigt uns "die Geschichte" etwas anderes.

Lenins Parteikonzept war schon vom Ansatz her vor allem ein Instrument gegen den Opportunismus. Ihm zuliebe wurden Freiräume für Selbstbetätigung, für freie Initiative geopfert. Aber "das Mittel wendet sich gegen den Zweck" – wie schon Rosa Luxemburg schrieb (Luxemburg 1904, S. 443). Sie befürchtete, dass genau dieses "Leithammeln und Drillen" dazu führt, dass "die Ernte der heutigen Mühen... morgen in die Scheunen der Bourgeoisie wandern" (ebd., S. 440). Dieses "Morgen" kam erst über 70 Jahre später – aber es kam.

Lenin hoffte, den Opportunismus durch eine geeignete Organisationsweise, die als Partei neuen Typs bekannt wurde, ein für allemal ausschließen zu können. Rosa Luxemburg blieb dialektisch. Sie vertrat nicht das Gegenteil, Prinzipienlosigkeit, wie ihr Lenin vorwarf. Nein, sie war der Meinung, dass es immer ein offener Prozess ist und bleibt, einerseits die Aktivität der gesamten Bevölkerung zu wünschen und andererseits diese sich nicht ziellos zerstreuen zu lassen, sondern bewusst über alltägliche Ziele hinaus strebende revolutionäre Politik zu machen.

"Spontaneität" heißt bei ihr nicht Willkürlichkeit, sondern beschreibt die Erfahrung, dass sich revolutionäre Bewegungen nicht "machen" lasen, "nicht auf Beschluss einer Parteibehörde zustande kommen, sondern unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen spontan ausbrechen" – wie es Paul Frölich (Frölich 1967, S. 173) beschreibt. Interessanterweise nimmt sie ebenso zur Kenntnis, dass nach ein oder zwei spontanen Aufständen der Sieg der Revolution wohl nur durch ein letztlich stark organisiertes Handeln zu sichern ist. Daraus ergibt sich für sie: "Nicht den Anfang, sondern den Schluss, das Ergebnis des revolutionären Ausbruchs meistern und dirigieren, dies ist da einzige Ziel, das sich eine politische Partei vernünftigerweise stellen kann." (Luxemburg 1905, S. 500)

Spontaneität hieß bei ihr auch nicht, auf den Selbstlauf der Geschichte zu vertrauen. In einem Brief schrieb sie: "... ich bleibe dabei, dass man sich lieber in den Rheinfall stürzen und in ihm wie eine Nussschale untergehen muss, als ihn mit weisem Kopfnicken weiter rauschen zu lassen..." (zit. in Frölich 1967, S. 174f.).

Wie hochaktuell diese hundertjährige Debatte ist, zeigt sich auch, wenn Rosa Luxemburg den Verlauf der Massenaktionen und Aufstände so um 1901 herum beschreibt. Sie stellt fest, dass in allen Fällen "im Anfang die Tat" war. "Die Initiative und die bewusste Leitung der ... Organisationen spielten eine äußerst geringe Rolle" (Luxemburg 1904, S. 432) schätzt sie ein. Und weiter "Die Kampftaktik... wird in ihren Hauptzügen überhaupt nicht "erfunden", sondern sie ist das Ergebnis einer fortlaufenden Reihe großer schöpferischer Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes." (ebd.).

Genau so etwas erleben wir wieder. Sollten wir diese Tatsache und ihre Beschreibung als "Anbetung der Spontaneität" kritisieren? Oder sollten wir uns besser erinnern uns an Luxemburgs Insistieren auf der Unaufhebbarkeit der Dialektik von Spontaneität und Bewusstsein, von Praxis und Theorie?

Anlässlich einer von der bürgerlichen Presse heraufbeschworenen Kluft zwischen den Akademikern und der sogenannten "blinden Masse" nach dem sozialdemokratischen Parteitag 1903 setzte sich Rosa Luxemburg mit dem Verhältnis Masse-Klasse-Partei auseinander. Die bisher typische Herabsetzung der Massen als haltlos, "widerwärtig" (Goethe), führerorientiert usw. verband sie mit der bisherigen historischen Rolle der Massen, die sie tatsächlich zu ausführenden Kräften in Kämpfen herabsetzte, bei denen nicht ihre Interessen im Spiel waren. Von der sozialdemokratischen Massenbewegung erhoffte sich Rosa Luxemburg, dass sie auf der Grundlage, dass sie dem eigenen Interesse der Massen entspricht, die gesamten unteren Volksschichten erfasst – sie identifiziert quasi Klassen- mit Massenkampf in diesem Sinne (Luxemburg 1903/04, S. 396). Für den Spartakusbund als Partei schrieb sie: "Der Spartakusbund ist keine Partei, die über der Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will. Der Spartakusbund ist nur der zielbewussteste Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtlichen Aufgaben hinweist, der in jedem Einzelstadium der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der proletarischen Weltrevolution vertritt... Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in ganz Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewussten Zustimmung zu den Aussichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes." (Luxemburg 1918, S. 448).

Wenn die Massen nicht bewusstlos bleibend nur ihren Anführen folgen sollen/wollen, gehen sie natürlich von ihrem eigenen Denken aus:
"Die eigene Einsicht der Masse in ihre Aufgaben und Wege ist deshalb hier eine ebenso unerlässliche geschichtliche Vorbedingung der ... Aktion, wie früher ihre Einsichtslosigkeit die Vorbedingung der Aktionen der herrschenden Klasse war." (Luxemburg 1903/04, S. 396). Indem die Führerschaft der Sozialdemokratie nur in ihrer aufklärenden Rolle besteht, entzieht sie sich damit die Basis der Führerschaft im alten Sinne: der Blindheit der Massen. Rosa Luxemburg behauptet damit als "herrschende Tendenz der sozialdemokratischen Bewegung: die Abschaffung der "Führer" und der "geführten" Masse im bürgerlichen Sinne" (ebd., S. 397). Sie stellt sich aber gleichermaßen gegen Bestrebungen in Frankreich und Italien, die organisierte Parteimasse in "autonome, zusammenhanglose, heteronome Föderationen" aufzulösen und sie damit wieder in ein "ohnmächtiges Werkzeug der Parlamentarier" zu verwandeln (ebd., S. 399). Auf eine "zielbewusste proletarische Kerntruppe" will sie nicht verzichten.

2.3. Zum Verhältnis Theorie – Praxis

Aus ihrem Konzept der aufgeklärten, bewussten Massen erklärt sich auch, dass Rosa Luxemburg der Gefahr dessen, was damals Opportunismus genannt wurde, nicht durch restriktive Maßnahmen begegnen wollte, wie es Lenin tat – sondern ihre Antwort war gerade die Stärkung des Bewusstseins aller. Diese Stärkung sollte es ermöglichen, den Gedanken von Bernstein innerhalb der geistigen Auseinandersetzung selbst begegnen zu können.
In einer ihrer ersten großen Schriften "Sozialreform oder Revolution" ging es ihr genau darum, dem proletarischen Bewusstsein "die scharfe zuverlässige Waffe des wissenschaftlichen Sozialismus" (Luxemburg 1899, S. 371) in die Hand zu geben. Sozialistisches Bewusstsein anstelle der bürgerlichen Spontaneität – wie es auch der erste DDR-Herausgeber dieser Schrift 1969 betonte (Günter Radczun). Auch ihr wichtigster Biograph, Paul Frölich, berichtete, dass "all ihre Politik, alle Politik der Partei ... nach ihrem Willen von wissenschaftlicher Erkenntnis bestimmt sein (sollte)". (Frölich 1967, S. 69) Ihr eigenes Wirken richtete sich von Anfang an gegen den richtungslosen Empirismus der Sozialdemokratie, wie sie ihn erlebte. Gleichzeitig führten die theoretischen Ansprüche nie dazu, sich vom realen Kampf zu isolieren.

Es wäre die falsche Entgegenstellung bewusstlose Spontaneität gegen Bewusstsein auszuspielen. Rosa Luxemburg wehrte sich nur gegen die Anmaßung, in die quasi unmündigen Massen müsse die Theorie von außen hineingetragen werden. Sie sprach von "Selbsterziehung" und "Selbstformierung".

Dieses Denken hat nicht nur politische Gründe, sondern ist selbst wissenschaftstheoretisch untermauert. In der Gesellschaft machen Menschen Geschichte nicht nur unter nicht selbst gewählten, vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen – sondern Rosa Luxemburg betont: "Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken. Aber sie machen sie selbst.... (Ihre) Aktion selbst ist mitbestimmender Teil der Geschichte." (Luxemburg 1916, S. 61) Sie hatte bereits 1901 in einer Einschätzung der theoretischen Differenz zwischen Marx und Lassalle geschrieben:

"Menschen machen ihre eigne Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken – sagten Marx und Engels, indem sie ihr Lebenswerk, die gesetzmäßige materialistische Geschichtserklärung, verfochten. Die Menschen machen die Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst – betonte Lassalle, indem er sein Lebenswerk, den "individuellen Entschluss", die "kühne Tat", verfocht." (Luxemburg 1901, S. 155). Rosa Luxemburg gab ausdrücklich beiden recht (ebd., S. 156). Die beiden Momente sind verteilt in Theorie – die materialistische Geschichtsauffassung – und die praktische Politik. Über allem aber standen auch bei ihr noch die Gesetze: "Es waren die historischen Gesetze, die hier entschieden, aber sie wirkten durch den "individuellen Entschluss"" (ebd., S. 155) – der praktische Entschluss ist lediglich "Ausdruck, Medium der Notwendigkeit" (ebd.).

3. Nach Genua

10 Jahre nach dem scheinbaren "Ende der Geschichte" sind junge Leute nachgewachsen, die sich nicht mehr vom Ende der "realsozialistischen" Länder paralysieren lassen. Sie führen aber auch nicht den früheren Weg der revolutionären Arbeiter- bzw. Massenbewegung weiter, sondern beginnen fast ganz von vorn. Vergleichen wir einmal die Situation mit der von Rosa Luxemburg analysierten ersten Revolution in Russland 1905.

Rosa Luxemburg stellte nach der ersten Revolution in Russland 1905 fest, dass sie zwar mit tausend Stimmen gerufen worden war – aber dann doch ziemlich unerwartet kam. Wieder hatten auch die bewusstesten Sozialdemokraten sie nicht angeführt, aber Rosa Luxemburg stellte ihnen die Aufgabe, jeweils den Schluss, das Ergebnis des revolutionären Ausbruchs zu "meistern und zu dirigieren" (Luxemburg 1905, S. 500). Es ist interessant, wie sie die Faktoren und Kräfte bewertete, die in der Vorbereitung der Revolution eine Rolle spielten. Das war z. B. die radikale und demokratische Intelligenz, deren kulturelle Einflüsse sich langfristig als wichtig erwiesen. Die Theoriezirkel unter Arbeitern kritisierte sie einerseits harsch, weil dort nicht kämpfende klassenbewusste Arbeiter, sondern "gelehrte Rabbiner des Sozialismus" (ebd., S. 502) erzogen worden wären – es stellte sich aber heraus, dass auch diese später eine wichtige Aufgabe in der Massenpropaganda erfüllten. Wichtiger fand sie aber "eine frisch-fröhliche Agitation auf dem Boden der unmittelbaren materiellen Bedürfnisse" – die dann leider teilweise in "platte Gewerkschafterei" einmündete (ebd., S. 503). Eine neue Phase begann 1901 durch politische Massendemonstrationen im Anschluss an akademische Unruhen. Aber Rosa Luxemburg fragte sofort weiter: "Demonstration, das ist bloß ein Moment, eine Ouvertüre, ein Fragezeichen" (ebd., S. 505)...

Heute kann man beim Lesen dieser historischen Schriften nicht vermeiden, die gegenwärtige Situation immer mitzudenken. Theoriezirkel? Auf den ersten Blick haben wir haben ja nicht mal mehr die. Beim zweiten Blick in die Diskussionen im Internet bin ich anderer Meinung. Agitation auf dem Boden der unmittelbaren materiellen Bedürfnisse? Nun ja, die defensiven Kämpfe um Sozialhilfe, gegen Kürzungen etc. – sie sind wahrlich nicht mehr besonders mutmachend. Schauen wir aber in andere Länder: Die Antiglobalisierungsbewegung entstand gerade aus dem unabweisbaren Zusammenhang zwischen den globalen Auswirkungen der sich ausweitenden kapitalistischen Produktionsweise auf das unmittelbare Leben von immer mehr Menschen. Massendemonstrationen? Mit unseren kleinen Häufchen brauchen wir sehr große Lautsprecherboxen und wilde Musik um nicht ganz in den Einkaufsmeilen übersehen zu werden. Beim Castor-Transport war das schon anders. Und Genua war – unter anderem durch die überzogene brutale Vorgehensweise der Polizei – weltweit nicht mehr zu übersehen. Aber auch das sind nur Ouvertüren ...

Damit aus diesen Ouvertüren eine wirkmächtige sich selbst organisierende Massenbewegung wird, die eine Chance hat, den Kapitalismus progressiv zu überwinden, ist noch viel zu tun.

3.2. Wie wir uns selbst organisieren

Zunächst einmal: Es kann überhaupt nicht darum gehen, von einem Theoretikertisch aus entscheiden zu wollen, wie sich "die Massen" oder "die Bewegung" oder wer auch immer am optimalsten zu organisieren habe. Die Frage kann deshalb nicht sein "Wie soll sich die Bewegung organisieren?" – sondern nur: "Wie können wir uns selbst organisieren?"
Die Frage der Führung habe ich bei "Linksruck" schon einmal angesprochen. Innerhalb dieser Debatte wurde folgende wichtige Meinung geäußert: "Widerstand ist keine militärische Frage – es geht nicht um eine "Aufrüstung" gegenüber Staat und Markt, sondern es geht darum, Kreativität, den Willen zum besseren Leben, die eigene und kollektive Selbstbefreiung und die freie Kooperation zur Grundlage des revolutionären Prozesses zu machen." (Bergstedt 2001). Die Effektivierung von Widerstand wird deshalb nicht in einer erneuten Zentralisierung gesehen, sondern in "Kreativität, direkter Aktion, visionärer Debatte und subversiver Sabotage" (ebd.).

Auch das braucht Organisierung. Die Tutte-Bianchi-Strategie in Genua sah vor, den Polizeikordon zu durchbrechen. Dabei sollte explizit kein Sachschaden angerichtet werden. Ihre Schutzausrüstung bestand nur aus legalen Mittel: Helmen, Schaumstoffpanzerungen, Plexiglasschilde, Feuerlöscher usw. Dazu wird gesagt, dass die "Legalität bis zur Grenze ausgereizt" wird. Zur Vorbereitung der Aktionen wurde auf Massenplena diskutiert und Konzepte entwickelt. Transparenz und demokratische Entscheidungsstrukturen statt zentralistischer Führung erwiesen sich als handlungsfähig, wenn auch nicht perfekt. Probleme gab es bei der Routenführung für die einzelnen Blocks und es kam auch zu Handgemengen zwischen Demo-Ordnern und unorganisierten Militanten (Bericht der Gruppe genova libera).

Klar geworden ist, dass von staatlicher Seite her die Außerkraftsetzung sämtlicher Grundrechte provoziert worden ist. Bekanntlich hatte man den sog. Schwarzen Block unbehelligt in der Innenstadt randalieren lassen und griff gezielt Teilnehmer der Massendemonstrationen in brutalster Weise an. Die Reaktionen seitdem deuten an, dass dies als Abschreckung so gut wie kaum wirkt, sondern sich noch mehr Menschen angesprochen fühlen, sich an den Protesten zu beteiligen (auch hier in Deutschland in viel geringerem Maße als anderswo). Wen die Globalisierung so lange nicht kratzte, wie sie "unten in Indien" ein paar Millionen Menschen durch Staudammbauten heimatlos macht, wird doch aufmerksam, wenn die eigenen Kinder wegen einem schwarzen T-Shirt mit Knochenbrüchen nach Hause kommen...

Als wichtig wird es eingeschätzt, die angestrebte Spaltung in friedliche und militante Demonstranten nicht mitzumachen. Insgesamt droht eine "Aufrüstung". Ein Tutte-Bianchi-Aktivist meint, viele Jugendliche sehen nur zwei Möglichkeiten: "Entweder sie verzichten aufs Demonstrieren oder sie demonstrieren bewaffnet." (Casarini).

In Deutschland hat die internationale Bewegung noch nicht voll gezündet. Es gibt nur wenige Basisgruppen, die mehr machen als "Eventhopping" und nur ansatzweise eine Vernetzung übers Internet (www.menschenstattprofite.de, www.hoppetosse.net). Das Augenmerk wird aktuell auf die Bildung von Basisgruppen gelegt, wobei sich ihre Organisierungsprinzipien im Prozess selbst entwickeln. Im Moment werden aller paar Monate in einzelnen Orten kleine Initialzünder gelegt: Seminare über "Entscheidungsfindung von unten", Trainings zu Direkten Aktionen usw. Auch die Notwendigkeit, an einem inhaltlichen Grundkonsens zu arbeiten, wurde weitestgehend erkannt. Über die Artikulation unbestimmter Proteste an Neoliberalismus, Globalisierung, Herrschaft und Dominanz kann selten hinaus gegangen werden – aber inzwischen stoßen marxistische Argumentationen nicht mehr sofort auf Ablehnungen und Stalinismusvorwürfe. Sie müssen sich nur als argumentativ gut genug erweisen und das macht natürlich viel Arbeit.

Eins der Hauptprobleme des Widerstandspotentials in Deutschland sehe ich darin, dass die Auswirkungen der Globalisierung uns nicht so stark betreffen, wie Menschen in anderen Gegenden der Welt. Und die Bewegungen, die sich mit den traditionellen sozialen Problemen in Deutschland beschäftigen, wie die Erwerbslosenbewegung, sind an den internationalen Geschehnissen so gut wie nicht beteiligt.

Durch die EXPO 2000 und die Diskussionen um die Agenda 21 hat sich eine starke Polarisierung zwischen den anbiedernden Nichtregierungsorganisationen und den neuen Bewegungen entwickelt – fast wie einst die Polarisierung zwischen Reformern und Revolutionären. Das war vor über 3 Jahren kaum absehbar. Jetzt kann es von dieser Basis aus weitergehen. Nach Genua erstarkte das Genoa Social Forum trotz oder vielleicht gerade wegen der Polizeigewalt. Strategien und Taktiken der Akteure werden weiter entwickelt. Es gibt nicht mehr nur Kampagnen und Events anlässlich großer Wirtschafts- oder NATO-Treffen, sondern die Arbeit wird kontinuierlicher – sie gibt sich auch Strukturen, deren Charakter sich erst noch entwickeln muss. Ansätze zu Dominanzen werden allerdings i.a. fast umgehend kritisiert und können sich kaum festsetzen. Im Prinzip entsteht so etwas wie eine "4. Internationale" – allerdings viel breiter und umfassender als die früheren. Während in Deutschland zum Teil ein starker Abgrenzungswahn gegen Autonome grassiert, rechnet die internationale Bewegung verstärkt damit gerade aus der Unterschiedlichkeit der Bewegungen ihre Stärke zu entwickeln.

Den Knackpunkt sehe ich derzeit darin, dass sich genügend Basisgruppen vor Ort bilden, die die weiteren Prozesse selbst-organisiert tragen können (vgl. auch BUKO). Es geht nicht nur um die Frage, wer sich traut, sich bei der nächsten Aktion unter die Knüppel zu begeben – es geht eher um die harmlosere "Bandenbildung vor Ort". Hier passiert erst einmal noch nichts – außer dem Erleben von Gemeinsamkeit und Solidarität, Kreatitivät und auch Spaß. Von hier aus kann dann Weiteres wachsen. Selbstorganisierung von unten ist das vorherrschende Prinzip. Einige Grundlagen für diese Art Organisationsprinzip gibt Christop Spehr in seinem Konzept "Freie Kooperation" (Spehr 2000).

Vieles, was vor ca. 5 Jahren erst einmal eher theoretisch vorausgedacht werden konnte über die Notwendigkeit und den Sinn von Selbst-Organisierung statt Interessenstellvertreterpolitik und Führungszentralismus hat sich inzwischen in der Praxis deutlich gezeigt. Diese Praxis stützt sich nicht auf die Theorie, sondern geht von ihren ureigensten Befindlichkeiten und Bedürfnissen aus. Eine Reflexion erfolgt höchstens ansatzweise – auch deshalb, weil der traditionelle Theorietypus dafür weniger geeignet ist. Er versteht sich weniger als theory in progress, sondern fertige Konzepte auszubrüten.
3.3. Offene Theorie und Praxis

Bisher herrscht – zumindest in Deutschland - eine starke Trennung: Die TheoretikerInnen schreiben für ihre diversen Zeitschriften und fahren nicht mit nach Genua – und die PraktikerInnen kommen kaum dazu, darüber nachzudenken, was ihnen und was durch sie geschieht. Das tradierte Verhältnis von Theorie und Praxis, wie es z. B. Rosa Luxemburg in der aufklärenden Rolle der Sozialdemokratie sah, funktioniert nicht mehr.

Es macht auch keinen Sinn, es wieder in dieser Form herzustellen, denn es beruhte auf einem Verständnis der Möglichkeit der theoretischen Voraus- oder Übersicht, das nicht mehr aufrecht zu erhalten ist.

Damit meine ich vor allem, dass sich die Akteure früher stark als "Vollstrecker gesellschaftlicher Gesetze" fühlten – was ihnen Hoffnung und Mut vermitteln konnte. Rosa Luxemburg vermied die dümmliche Überheblichkeit mancher anderer Besserwisser. In ihrer Schrift "Sozialreform oder Revolution" gibt sie ein Beispiel, wie über historische Gesetzmäßigkeiten gedacht werden kann, ohne in Fatalismus zu verfallen. Sie ging von der Unvermeidlichkeit der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft aus. Unvermeidlichkeit aber nicht im Sinne einer Vorhersagbarkeit, was passieren wird und notwendigerweise muss. Sondern lediglich im Sinne: Es ist unvermeidlich, dass sich Bedingungen ändern – so weit, dass es unvermeidlich radikale Änderungen geben wird. Welche Änderungen zu wessen Gunsten, auf wessen Kosten es sein werden, entscheidet das zielbewusste Handeln der Akteure. Das ist nicht vorentschieden. Gesetzmäßigkeiten sagen nur etwas über Möglichkeiten und Bedingungen von Möglichkeiten, nie über konkrete Ereignisse und Geschehnisse. Deshalb ist aus ihrer Kenntnis kein Führungsanspruch auf einem scheinbar vorherbestimmt-richtigen Weg ableitbar. Gleichzeitig wäre es ein Verlust, auf die Kenntnis dieser gesetzmäßig entstehenden Möglichkeiten zu verzichten, wenn das eigene Handeln gegenüber anderem zum Ziel kommen soll. Bewusstheit – bezieht sich also demnach nicht auf das Besserwissen über das notwendig – notfalls zwangsweise - Durchzusetzende, sondern auf die bessere Kenntnis der entstehenden Möglichkeiten für eingreifendes Handeln.

Zu dieser Kenntnis gehört es auch zu wissen, dass Entwicklung in unterschiedlichen Phasen verläuft. An Knotenpunkten der Entwicklung gibt es rasante Beschleunigungen der Bedingungsänderungen, der sogenannte "Schmetterlingseffekt" gibt sogar manchen (nicht allen) kleinen Impulsen eine erhebliche Ausbreitungschance. Dieses Wissen ermöglicht auch das Verständnis der Unterschiedlichkeit von beispielsweise Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci. Während Rosa Luxemburg sich durchaus mitten im "Bewegungskrieg" befand, war Gramsci im wörtlichen Sinne im "Stellungskrieg" gefangen.
Mit diesen Worten gesprochen, würde ich einschätzen, dass wir uns wirklich lange "in Stellung" befanden – aber spätestens seit 1990 ist die Welt wieder in Bewegung. Noch geben die anderen die Richtung vor, haben alle Macht, die Bedingungen zu ihren Gunsten zu manipulieren. Aber glücklicherweise wissen wir um die Möglichkeit, dass auch Macht- und Hegemoniebedingungen sich ändern lassen.

Für den Typus von Theorie, der heute gefragt ist, ergibt sich daraus aber eine stärkere Betonung der Offenheit und Unterbestimmtheit der Entwicklung als es noch bei Rosa Luxemburg war. Nicht mehr nur die Geschwindigkeit der ansonsten gesetzmäßigen Entwicklung wird von den Handelnden beeinflusst. Nicht mehr nur eine grundsätzliche Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei ist zu betrachten – sondern ausgehend von gegebenen Bedingungen ist die Zukunft offen. Es gibt nicht nur die bestimmte Negation, wie im Hegelschen Dialektikverständnis, sondern reale Evolution vollzieht sich in unbestimmten Negationsschritten (Bloch 1985, S. 41).

Das Verhältnis von Spontaneität und Bewusstheit nimmt damit neue Formen an. Es wird weniger auf Bestimmt- und Bedingtheiten geschaut als auf Möglichkeitsbeziehungen und die Begründetheit menschlichen Handelns.

Ein solch offener Theorietypus verlangt auch eine andere Antwort auf die Frage: Wie kommen Wissen und Handeln zusammen? Wieland Elfferding unterscheidet klar zwischen der Meinung Lenins, bei dem das sozialistische Bewusstsein "in die Bewegung hineingetragen" werden müsse – und Luxemburgs, bei welcher der sich herausbildende Wille der Massen das Primat hat (Elfferding 1989, S. 128).

Trotzdem wollte Rosa Luxemburg den Gang der Geschichte nicht einfach laufen lassen. "Freilich lassen sich Revolutionen nicht auf Kommando machen. Dies ist aber auch gar nicht die Aufgabe der sozialistischen Partei. Pflicht ist nur, jederzeit unerschrocken "auszusprechen, was ist", d.h. den Massen klar und deutlich ihre Aufgaben im gegebenen geschichtlichen Moment vorzuhalten, das politische Aktionsprogramm und die Losungen zu proklamieren, die sich aus der Situation ergeben." (Luxemburg 1917, S. 289) Heute haben wir dafür keine Partei mehr – aber "was ist", d.h. was möglich ist und als notwendig angesehen wird, muss debattiert werden. Es hat keinen Zweck, sich mit Agenda-21-Kränzchen zufriedenzugeben: auf der Tagesordnung steht mehr. Das muss gesagt werden und um gehört zu werden, müssen geeignete Situationen geschaffen werden. "Unterhandelt nicht! Handelt!" . (Luxemburg 1919, S. 522) können wir nur allen NGOs ins Stammbuch schreiben!

Dabei ist auch ein Irrtum Rosa Luxemburgs zu berichtigen. Sie schrieb: "Das Negative, den Abbau, kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive nicht." (Luxemburg 1917/18, S. 361) Eigentlich weiß sie es selbst besser: Auch der Abbau der Klassenherrschaft kann nicht dekretiert werden.

Bezüglich des Theorie-Praxis-Problems entwickelte Antonio Gramsci die Vorstellung vom "organischen Intellektuellen": Dies "ist nicht der Erzieher, das ist nicht der, der von oben herab diejenigen leitet, die unten bleiben. Er wird vielmehr in den wirklichen Kämpfen der Arbeiter an ihrer Befähigung zur Führung der Kämpfe mitwirken. Er wird "von unten nach oben" arbeiten, die Ansätze zur Selbstvergesellschaftung unterstützen, am Kohärent-Werden der Weltanschauung arbeiten." (Haug 1981, S. 241)

Im Moment wächst eine junge Generation heran, die bei der Aneignung und Entwicklung eines angemessenen theoretischen Verständnisses der gesellschaftlichen Entwicklung im Prinzip völlig von vorn anfangen muss. Sie wachsen in keine Organisationen hinein, in denen sie wenigstens die Grundlagen des Marxismus quasi automatisch mitbekommen. Außerdem zeigt sich der übliche lockere Lebensstil als sehr hinderlich für konzentrierte Studien. Ich habe häufig die Erfahrung gemacht, dass junge Leute irgendwann eher kurzzeitig einige Studien betreiben, ein oder zwei Bücher lesen, die "in" sind – das sind z. B. im politökonomischen Bereich "No Logo" von Naomi Klein und im eher revolutionstheoretischen Bereich "Panokratie" von Tony Blubb oder die Bücher von P.M. aus Zürich – und dann auf diesem Stadium verharren. Gleichzeitig jedoch wird seit ca. 3 Jahren deutlich, dass diese jungen Leute sich auch nicht mehr vom Stalinismusverdikt erschrecken lassen, wenn es um Marxismus geht. Und aus der Fülle derjenigen, die einfach zu wenig Zeit für intensivere Studien haben, entwickeln sich nicht nur einzelne, sondern wenigstens mittlerweile so cirka Dutzende, die allein ich kenne, die im Internet in mehreren Diskussionsforen und immer wieder neu entstehenden Zeitschriften und Flugblättern erstaunlich zutreffende Aussagen und sich entwickelnde theoretische Konzepte erarbeiten. Die finden höchstens ansatzweise Eingang in die etablierten linken Blätter – sie sind nicht immer zu schlecht dafür, sie entwickeln nur eine andere Dynamik, laufen an ihnen einfach vorbei.

Ich möchte nur kurz das meiner Meinung nach hoffnungsvollste dieser Foren vorstellen. Es handelt sich um Opentheory (www.OpenTheory.org). Normalerweise versanden viele Diskussionen im Internet. Mails in Mailinglists werden versendet, gelesen, ggf. beantwortet, dann gelöscht. In den Köpfen bleibt etwas zurück – aber angesichts der enormen Quantität eher wenig. In den dokumentierten Webforen kann zwar immer nachgelesen werden, was wer auf wen antwortete, aber eigentlich bleibt es ein ewiges Hin- und Her von Meinungsäußerungen. Opentheory hat den Anspruch, die Entwicklung von Theorie zu befördern. Dazu stellt es eine Plattform zur Verfügung, bei der der Anwender und Nutzer nur mit Formularen und Buttons umgehen können muss – also nichts programmieren. Das Prinzip ist dem typischen Organisationsprinzip bei der Entwicklung Freier Software abgeschaut. Entwickelt wird, wozu es zuerst individuellen Bedarf und Initiative gibt. Ein Maintainer stellt seine Idee und erste Lösungsansätze öffentlich ins Web und lädt zur Mitarbeit ein. In unserem Fall ist das ein erster Text über ein Problem, eine Fragestellung. Schon dort passiert etwas Unübliches: Nicht der perfekt überarbeitete, durchgestylte Artikel wird veröffentlicht – im Fall der Software nicht erst das fertige Produkt. Sondern die allererste Idee, die allerersten Ansätze in Rohform werden der Öffentlichkeit preisgegeben. Im Fall der Software war das die geniale Idee von Linus Torvalds und es erwies sich, dass diese offene Entwicklungsweise wesentlich effektiver, fehlerfreier und kreativer ist, als wenn eine kleine Gruppe Experten versucht, ein perfektes Softwaresystem zu erstellen, wie es sonst üblich ist. Im Fall der Theorieentwicklung ist es ebenso unüblich, etwas Unfertiges zu zeigen. Aber wir wollen und brauchen keine Theorie aus Elfenbeintürmen und von grünen Tischen. Perfekt – aber unnütz. Wir wollen theoretisches Denken in der Bewegung. Und dies entwickelt sich nur im gemeinsamen Tun. Ausgehend von Problemstellungen wird gemeinsam an einem Text gearbeitet. Der Maintainer ist nur Initiator und die- oder derjenige, der den Fortgang der Diskussion für einen bestimmten Text genauer im Auge behält und von Zeit zu Zeit eine neue, weiterentwickelte Version des Gesamttextes vorschlägt. Das Diskutieren erfolgt über die Möglichkeit, einzelne Abschnitte des jeweils aktuellen Textes mittels geöffneter Formulare - wie in Foren - kommentieren zu können. Die Kommentare bleiben aber nicht folgenlos dort stehen, sondern werden in spätere Textversionen eingearbeitet. Die Kommentatorinnen und Kommentatoren sind untereinander – wenn sie sich als einmal als Projektteilnehmer eingetragen haben – auch über eine Mailingliste miteinander verbunden, so dass jede und jeder automatisch jede neue Kommentierung zugeschickt bekommt. Der Maintainer ist davon abhängig, ob er Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter findet und was sie aus seiner Idee machen – die Beteiligten können jederzeit auch selbst ein neues Projekt eröffnen; es können auch unterschiedliche Standpunkte in unterschiedliche Projekte verzweigt werden. Ein Copyright gibt es auf solche Texte prinzipiell nicht, sondern eher ein Copyleft, das auch aus der Freien Softwareszene abgeschaut ist.

Die Erfahrungen mit diesem System zeigen, dass die Erwartungen nicht zu hoch geschraubt sein dürfen. Wenn ich da etwas über Dialektik reingebe, schwätzen natürlich auch Leute mit, die nie eine Zeile von Hegel gelesen haben. Ich bin aber nicht in der Position, auf sie herabblicken zu können. Wenn sie sich an der Diskussion beteiligen, sind sie gleichberechtigt. Wenn ich denke, dass sie noch etwas dazulernen müssten – dann muss ich so gut argumentieren, dass sie von selbst Interesse daran bekommen, das zu tun. Störenfriede gab es auch schon, die werden einfach ignoriert, erlangen keine Resonanz und erledigen sich dadurch. Deren Kommentare müssen natürlich nicht weiter integriert werden – es wird immer das aufgenommen, was auf Resonanz stößt, von anderen aufgegriffen und weiterentwickelt wird. Tatsächlich ist es wohl bei kaum einem Text der inzwischen über 100 Projekte in Opentheory gelungen, höherentwickelte Versionen zu erarbeiten. Im Moment laufen zwei Projekte, die am Ende in Buchform veröffentlicht werden sollen, bei denen wird das notwendigerweise so sein, dass sich die Texte tatsächlich weiter entwickeln. Aber letztlich sind die Texte gar nicht das Wichtigste. Wichtig ist der Prozess und was wir dabei erleben und was dabei mit uns selbst passiert. Besonders im Zusammenhang mit der Thematik "Oekonux" – der Entwicklung eines Konzepts, das die Erfahrungen mit der Freien Software für die Entwicklung von Umrissen einer Freien Gesellschaft nutzt – habe ich auch besonders wohltuende menschliche Kontakte erlebt. Das Wohltuen bezieht sich dabei nicht nur auf menschliche Nähe, sondern vor allem auch auf den Umgang miteinander in theoretischen Widersprüchen oder auch bezüglich organisatorischer Selbstorganisation auf einer selbst veranstalteten Konferenz.

Das ist in gewisser Weise eine Form der von Rosa Luxemburg geforderten "Selbsterziehung" und "Selbstformierung".



Literatur:
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Laschitza, Anneliese; Radczun, Günter (1971): Rosa Luxemburg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1971
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Luxemburg, Rosa (1917/18): Zur russischen Revolution In: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1990, S. 332-365
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Oelßner, Fred (1951): Rosa Luxemburg. Eine kritische biographische Skizze. Berlin 1951

Pieck, Wilhelm (1951): Vorwort zu "Ausgewählte Reden und Schriften I. Band" von Rosa Luxemburg, Berlin 1951, S. 5-16
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Stade, Michael (2001): Lief die Polizei in Babelsberg Amok? Interview von Tatjana Behrendt. In: junge welt, 28. August 2001, S. 3
Spehr, Christoph (2000): Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperation, zugleich -preisgekrönte! - Beantwortung der von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg gestellten Frage: "Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?", Bremen 2000
Radczun, Günter (1969): Nachwort zu: Luxemburg, Politische Schriften, Hrsg.: G. Radc
zun, Leipzig 1969, S. 437-470

 

Dieser Text wurde veröffentlicht
In: Jahrbuch 2002 der Ernst-Bloch-Assoziation.
VorSchein Nr. 22/23.
(Hrsg.v. Doris Zeilinger) Berlin/Wien 2003,
S. 189-199.

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