Selbstentfaltung
und High-Tech-Eigenproduktion

Wenn wir heute auf der Suche nach Selbstversorgung sind, so steht das "Selbst" vor allem als Gegenpol zu einer Wirtschaftsweise, die unseren Lebensbedürfnissen fremd gegenüber steht, die sich von ihnen weitestgehend abgekoppelt hat und unsere Lebensgrundlagen sogar mehr und mehr zerstört. Selbstversorgung im Kontrast dazu soll die Sorge wieder näher an das Selbst heranführen, die herrschaftliche und sachliche Entfremdung im Bereich der Sorge um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse aufheben. Selbstversorgung - das ist für Menschen als isolierte Individuen überhaupt nicht möglich. Sogar Robinson nahm auf seine einsame Insel das Wissen aus tausenden von Generationen menschlichen Lebens mit sich. Menschliches Leben ist immer gesellschaftlich vermittelt (auch Einsamkeit ist eine spezifische Form, sich zur Gesellschaft zu verhalten, sie ist nicht der "natürliche" Zustand des Individuums). Gerade auf Grundlage dieser gesellschaftlichen Vermitteltheit haben menschliche Individuen aber grundsätzlich die Möglichkeit, sich gegenüber den gesellschaftlichen Handlungsoptionen frei wählend und schöpferisch zu verhalten. Daraus ergibt sich die besondere Bedeutung der menschlichen Individualität und die Tatsache, dass eine Gesellschaft nur dann menschlich ist, wenn ihre Strukturierung, ihre Vermittlungen auf den jeweils individuellen Bedürfnissen basiert.
Menschliche Bedürfnisse haben viele Inhalte - grundlegend ist ihnen die Notwendigkeit der Selbstreproduktion und auch die der schöpferischen Selbstentfaltung. "Selbstentfaltung" soll in ihrer Bedeutung von der üblichen - für isolierte Individuen verwendeten - "Selbstverwirklichung" unterschieden werden, indem sie die Notwendigkeit der Anderen für die Entfaltung jedes Individuums von vornherein voraus setzt.

Wenn wir diese allgemeinen Vorstellungen auf eine nicht entfremdete Wirtschaft anwenden, so ergeben sich einige untereinander zusammenhängende Problempunkte. Wir wollen von individueller Bedürfnisbefriedigung, die neben konsumtiven auch die produktiven Bedürfnisse enthält, ausgehen. Auf Grundlage dieser Bedürfnisse organisieren sich die Menschen ihre jeweiligen Kooperationen, die jeweils der Problemstellung angemessen sind, selbst. Vorausgesetzt ist dabei, dass nicht abgehobene ökonomische Prinzipien ("Rentabilität" oder gar "Profitabilität") das Primat gegenüber der Selbstorganisierung der Menschen erhalten und dass Herrschaft von Menschen über Menschen oder entfremdeten Institutionen über Menschen abgeschafft ist. Diese Voraussetzungen reichen aber noch nicht ganz aus. Gegenüber den ökonomischen und politischen Herrschaftsformen wirken oft auch scheinbar oder reale sachliche Gegebenheiten einschränkend auf die Entfaltung der Individualität und die freiwillige Selbstorganisierung. Letztlich muss gesamtgesellschaftlich, um alle Bedürfnisse ausreichend zu befriedigen, eine gewisse Arbeitsleistung mit einer ausreichenden Produktivität erbracht werden. Hohe Arbeitsproduktivität wurde bisher meist mit einer technischen und planerischen Zentralisierung erkauft (Fließbandproduktion). Das Aufgeben dieser Zentralisierung führte dann in vielen Projekten der traditionellen Alternativen Ökonomie entweder zu einer höheren Arbeitsbelastung oder zu einer Reduktion des Maßes an Bedürfnisbefriedigung, oder sogar zu beidem. Beides könnte zwar moralisch bis diktatorisch im Interesse der Rettung der Menschheit gefordert werden - wird aber wohl nicht freiwillig von der Mehrheit der Menschen gewählt werden. Sollte es nicht möglich sein, wie schon Simone Weil in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts verzweifelt fragte, eine dezentral-vernetzte, Selbstbestimmung ermöglichende Wirtschaft auf trotzdem hohem Produktivitätsniveau zu entwickeln?

Kommen wir nun von den etwas weltfremd klingenden Wunschvisionen zu dem, was Ernst Bloch "konkrete Utopie" nannte - zu dem, was sich bereits in der Gegenwart als Möglichkeit zeigen lässt. Das Stichwort "Fließband" hat es schon angedeutet: Heute produzieren auch die Kapitalisten immer weniger auf Grundlage dieser zentralistischen Struktur, sondern nutzen die Produktivitäts- und Effektivitätsvorteile der Selbstorganisierung (Stichwort "Fraktale Fabrik" usw.). Es wäre an der Zeit, wie einst Marx die modernsten Produktionstechniken zu studieren, um das zweite Gesicht ihres Januskopfes zu zeigen, nicht nur ihre Nachteile. Flexibel einsetzbare Universalmaschinen ermöglichen eine neue Organisationsweise der Produktionsprozesse, die viel eher von individuellen Bedürfnissen auch in der Produktion ausgehen kann (so dass im Idealfall jede und jeder nur dann genau das arbeitet, wann und wozu sie und er Lust dazu haben). Dass auf diese Weise auch hochkomplexe Produkte erzeugt werden können und dass Menschen durchaus in der Lage sind, Formen der Selbstorganisierung zu finden, die sogar in globalen Maßstäben funktionieren und nicht nur in kleinen Gemeinschaften, zeigt die Art und Weise der Erzeugung von Freier Software. Was fehlt nun noch? Die Freie Software kann keine frische Brötchen auf den Tisch zaubern. Die Brötchen nun aber bekommen wir wohl doch am liebsten vom Biobäcker nebenan. Aber andere materielle Dinge, die inzwischen zu unserem Alltag gehören, erfordern doch einen größeren technischen Einsatz. Sind wir dafür auf die Kapitalisten angewiesen oder müssen darauf verzichten? Wir können zur Konkretisierung unserer Utopie inzwischen auf einen weiteren ziemlich neuen Ansatz verweisen, der uns hier weiter helfen kann: Genau so wie einst die teuren und riesengroßen Computer mit ihrem Masseneinsatz und ihrer Miniaturisierung billiger wurden, so werden mittlerweile bestimmte der genannten Universalmaschinen auch immer kleiner und (zumindest für Gruppen) bezahlbarer. Zu "Personal Fabricatoren" können sich vor allem Maschinen entwickeln, die nicht mehr zerspanend (subtraktiv: drehen, fräsen...) arbeiten, sondern "generativ" wirken, d.h. aus flüssigen Materialien schichtweise (additiv) das gewünschte Bauteil aushärten. In Frithjof Bergmanns Konzept der New Work sind diese Maschinen Bestandteil des Arbeitsbereiches High-Tech-Eigenproduktion.

Dass wir uns in Jena in der "Zukunftswerkstatt Jena" seit einigen Monaten stark mit diesen neuen Entwicklungen beschäftigen, hat nichts mit einem Technikfetischismus zu tun. Uns ist bewusst, dass die Technik alleine uns nicht retten wird, dass sie uns die politischen und sozialen Kämpfe nicht abnimmt. Aber ohne eine solche sinnvoll umgenutzte Technik ist es schwer vorstellbar, wie wir auf andere als kapitalistische Weise und ohne die realsozialistischen Mangelzustände "eine andere Welt möglich" machen wollen.

Weitere Infos:

Broschüre "Herrschaftsfrei Wirtschaften"
Annette Schlemm: Eine andere Produktionswelt ist möglich!
Reiner Nebelung: Technik ist die Antwort, aber was war die Frage?

Mehr dazu im Heft:

Herrschaftsfrei Wirtschaften
aus der Reihe: fragend voran... Hefte zu Widerstand & Vision

Herausgeber: Stiftung FreiRäume

Herrschaftsfrei Wirtschaften
aus der Reihe: fragend voran... Hefte zu Widerstand & Vision

Osnabrück und Reiskirchen-Saasen, 2005

90 S., 4 Euro Spendenempfehlung (+ Porto und Verpackg.)

zu bestellen bei:

Packpapier Verlag
Postfach 1811
49008 Osnabrück
packpapier.verlag@t-online.de
oder
Projektwerkstatt
Ludwigstraße 11
35447 Reiskrichen-Saasen
fragend-voran@projektwerkstatt.de

 

[Homepage] [Gliederung]







- Diese Seite ist Bestandteil von "Annettes Philosophenstübchen" 2005 - http://www.thur.de/philo/ku3.htm -