Niemals zum Objekt

machen/lassen !!!

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im Internet unter
http://www.opentheory.org/subjekt/text.phtml

Nicht der Anschlag vom 11. September 2001 konnte die westliche Zivilisation schädigen. Diese betrieb ihre Selbstzerstörung danach umso gründlicher. Die Fratze der Macht kann seitdem unverfroren auf die Tünche von Zivilisiertheit verzichten. Nur noch Träumern kann es so scheinen, als käme nach dem Ende des Sozialismus nun ein ewig prosperierender Kapitalismus, in dem man lediglich ein wenig herumreformieren brauche. Das Gegenteil geschieht – seine Defekte brechen sich in gefährlicher Weise Bahn. Vor 10 Jahren fiel – zumindest in unseren Breiten – vorwiegend die ökologische Gefährdung ins Auge, das war dann auch die Zeit der sog. Jugendumweltbewegung. Dass unsere –seitdem ebenfalls rasant entschwindende – soziale Abgesichertheit nicht allen Menschen dieser Erde zugute kommt, wurde seit Ende der 90er Jahre bei den sich entwickelnden internationalen Protesten gegen WTO und IWF unübersehbar. Parallel dazu fraß sich spätestens seit dem ersten Golfkrieg ein weiteres Übel immer weiter vor – der Krieg.

In vielen Jahren, falls es noch jemanden gibt, sich zu erinnern, wird man leider nicht an die 2800 umgekommenen Menschen denken, wenn man an den 11. 9. denkt – sondern daran, daß dieses Datum den Einschnitt markiert, ab dem sich alle Ereignisse überschlagen haben. Es ist kein "normaler" Machtkampf verschiedener Interessengruppen mehr möglich – die Mittel des Kampfes radikalisieren sich. Jeglicher Widerstand gegen die Wirtschaftsweise und Politik wird als "Terrorismus" ins Visier genommen. Der Widerstand und der Kampf ist kein Spaziergang und kein Karnevals-Event – er kostet Blut und manchmal auch das Leben.

Diese radikale Verschärfung bringt uns alle auch in Zeitdruck. Die moralische Entrüstung über das Vorgehen der Mächtigen bringt uns in Rage. Gleichzeitig bringt das System seine Abwehrmechanismen in Stellung. Was gegen die Terror gut ist, wird sich auch gegen jeden Widerstand einsetzen lassen. Was nun? Haben wir noch die Zeit, an einer emanzipative, Herrschaft beseitigende Selbst-Organisierung aller Menschen zu arbeiten? Von Menschen oft, die sich eher in die "uneingeschränkte Solidarität" der Mächtigen binden lassen, als daran zu denken, daß deren Interessen nicht ihre sind?

Ich sehe eine große Gefahr für uns darin, daß wir uns durch die Beschleunigung und Verschärfung dazu verleiten lassen, selbst nicht mehr ausreichend über Ziele und Mittel unseres Tuns nachzudenken. Erinnern wir uns an die Erfahrungen des Realsozialismus: Der Wille zur Abwendung von unmenschlicher Not führte zur Revolution – und diese griff dann zu Mitteln, die selbst unmenschlich waren. Trotz allem Druck, aller Brisanz: Ums Menschsein geht es, und um nichts anderes.

Was heißt das nun konkret?

Ich nenne einige Standpunkte (nach Holzkamp, siehe Literatur), die dieses "Menschsein" in den Mittelpunkt stellen und wende sie auf Überlegungen zur Vision/zum Ziel sowie zum Vorgehen/zur Strategie an.

1. Subjektstandpunkt:

Es wäre unangemessen, wenn ich mich oder eine Gruppe "über" andere Menschen erheben und "für andere" denken und handeln würde. Menschlich ist z.B. eine Vision nur, wenn sie andere Menschen niemals als Objekte thematisiert, sondern die Vision so umreißt, daß alle Menschen als Subjekte selbstbestimmt über die Formen ihres Lebens und möglicher Kooperationen entscheiden. Eine solche Vision ist z.B. die der "Freien Kooperation" von Christoph Spehr.

Für das Erkämpfen und "Errichten" einer dieser Vision entsprechenden Gesellschaft bedeutet das, niemals "für andere Menschen" denken und handeln zu wollen. Oft ist dieses "für andere handeln" gut gemeint (war es z.B. auch von vielen Kommunisten) – aber es behandelt die anderen Menschen als Objekte, erkennt sie nicht als Subjekte an. Wenn wir es nicht gemeinsam schaffen, mit anderen Subjekten gemeinsam, wird es keine befreite Gesellschaft geben. Keine noch so kampfbereite Avantgarde könnte das ändern.

2. Natürliche Gesellschaftlichkeit – gesellschaftliche Natur der Menschen

Wir sind es gewohnt, uns die Gesellschaft als Summe von ansonsten eigenständigen Individuen vorzustellen. Hier die einzelnen Individuen – für sich, relativ isoliert von allem - und da der "Klebstoff", der sie dann zusammenbringt: entweder persönliche Machtverhältnisse (patriarchale Familie, Fürstenherrschaft), oder Kommunikation, Liebe, Geld (Kapitalmacht...) oder andere Medien (dadurch unterscheiden sich verschiedene bürgerliche Sozialtheorien). Die oben erwähnte Subjektivität scheint dann die absolute Freiheit und Unabhängigkeit jedes Einzelnen zu bedeuten. Dieses Menschenbild ist jedoch selbst einseitig. Menschen unterscheiden sich von Tieren gerade dadurch, daß sie schon von ihrer biologischen Ausstattung her dazu befähigt sind und es für ihr individuelles Leben auch notwendig ist, sich zu vergesellschaften. Es werden nicht bloße biologische Organismen (mit menschlichen Merkmalen) durch ein ihnen eigentlich äußerliches Mittel zusammengebracht. Jeder einzelne Mensch trägt seine Gesellschaftlichkeit IN SICH. Das wird beispielsweise daran deutlich, daß menschliche Bedürfnisse sich nicht nur darauf beziehen, daß der einzelne Mensch satt sein will – sondern er hat auch das Bedürfnis sich eingebunden zu wissen in längerfristige Produktionsmöglichkeiten, die auch zukünftig Hunger verhindern. Das zeigt sich auch daran, daß die individuelle Selbstentfaltung nur dann befriedigend erfolgt, wenn nicht nur jede/r sich "für sich" entwickelt, sondern jede/r von sich aus mehr davon hat, wenn sich auch andere Menschen optimal entfalten können.

Das Gesellschaftliche IN uns ist eine Garantie dafür, daß wir uns nichts vorher überlegen müssen, wie in einer zukünftigen freien Gesellschaft die Menschen wohl dazu gebracht werden könnten, sinnvoll miteinander zu kooperieren. Es braucht keinen Arbeitszwang – Menschen haben selber das Bedürfnis ihre Bedürfnisse gemeinschaftlich zu befriedigen. Wie sie das einst tun werden, können wir durchaus ihnen überlassen – wir brauchen uns kein "perfektes ökonomisches System" für sie einfallen zu lassen!

Nur weil Menschen "natürlich gesellschaftlich" sind, kann es überhaupt freie Formen von Gesellschaftlichkeit geben. Sonst wären wir immer darauf angewiesen, irgendwelche äußerliche Bindemittel einzuführen, die sich gegenüber den Einzelnen immer als Zwangsmittel erweisen (auch wenn sie gut gemeint wären). Dass die derzeitige Gesellschaft uns hindert, diese natürliche Gesellschaftlichkeit auszuleben, sondern uns zwingt, uns als Einzelne – tendenziell auch immer gegen andere – durchzuschlagen, ist ein Grund mehr, sie aufzuheben. Wir brauchen aber keinen "neuen Menschen" zur Revolution und für eine neue Gesellschaft. Das, was eine menschliche Gesellschaft auszeichnet, ist längst in jeder/m von uns, wie behindert auch immer! Auf dem Weg in eine freie Gesellschaft müssen wir diese natürliche Gesellschaftlichkeit lediglich ausleben lassen. Natürlich geht das nicht im Selbstlauf, sondern gerade gegenwärtig werden interessante "Methoden für Gruppen" und Methoden der "Organisierung von Unten" (siehe Literatur) erarbeitet... Wir brauchen aber keine gekünstelten Institutionen und Organisationen. Ohne die "natürliche Gesellschaftlichkeit" würde eine freie Selbst-Organisierung niemals funktionieren! Diese natürliche Gesellschaftlichkeit besser zu verstehen, kann uns sicher auch bei der Gestaltung unserer Selbst-Organisierungs-Formen helfen.

3. Die spezifische Möglichkeitsbeziehung von Menschen gegenüber der Welt

Dass Menschen in Gesellschaften leben und "natürlich gesellschaftlich" sind, hat einen ganz besonderen Vorteil. Gegenwärtig erleben wir die Gesellschaft ja eher als Zwangssystem gegenüber dem Einzelnen. Grundsätzlich jedoch ermöglicht erst eine gesellschaftliche Produktionsweise die individuelle Freiheit. Kein Tier ist individuell frei – sondern jedes muß eine Funktion bei der Reproduktion der Population erfüllen. Es kann sich nicht entscheiden, ob es mitmachen will, es kann sich nicht mal die Rolle aussuchen, die es erfüllen muß, sondern die legt seine biologische Konstitution fest. Menschliche Reproduktion braucht zwar, daß sich "statistisch gesehen" eine ausreichende Beteiligung von genügend Menschen an der Produktion – legt aber nicht fest, wer wann wie viel und was dafür tut. Aus der Sicht des Einzelnen ist er prinzipiell frei, das zu wählen (auch wenn die realen Gesellschaften das bisher weitgehend verunmöglicht haben). Der einzelne Mensch braucht die Gesellschaft – gerade dafür, daß er in ein Reproduktionssystem eingebunden ist, das ihm eine spezifische Möglichkeitsbeziehung möglich macht. Nur "statistisch durchschnittlich" erzeugen alle Beiträge aller Menschen zusammen die Gesellschaft. Dieses durchschnittlich ausreichende Maß wird nicht direkt auf den einzelnen Menschen "heruntergerechnet". Es bleibt für den Einzelnen offen, ob, wie und in welchem Maße er sich konkret an der Reproduktion der Gesellschaft beteiligt. Das menschliche Individuum ist nicht unbedingt ein "funktionierendes Element zum Selbsterhalt des Systems", sondern das gesellschaftliche System kann auch ohne seinen Beitrag funktionieren. Es kann nicht unabhängig vom Beitrag von genügend Menschen existieren, aber vom Beitrag jedes speziellen Einzelnen schon. Menschen haben immer die eine Möglichkeiten, so zu handeln, wie es ihnen "von außen" nahegelegt wird. Sie haben aber immer auch die "Zweite Möglichkeit" der freien Wahl – es anders oder nicht zu tun.

Darauf beruht die Hoffnung, daß unsere Vision einer grundsätzlich freieren Gesellschaft als die bisherigen auch ökonomisch möglich ist. Die Perspektive wird dadurch besser abgesichert (zumindest für jene, die es sonst nicht "glauben").

Zusätzlich ist es aber wichtig, auch hieraus Folgerungen für den Weg in diese freie Gesellschaft zu ziehen. Jeder Mensch hat immer die Möglichkeit, nicht nur das zu denken und zu tun, was ihm "nahegelegt" ist. Das "Nahelegen" kann mitunter mit viel Zwang verbunden sein. Wir werden dazu erpresst lohnarbeiten zu gehen; Menschen in Gefängnis können individuell viel weniger wählen, als andere. Trotzdem: So sehr behindert das Ausleben dieser "Zweiten Möglichkeit" auch ist – wir können nicht so tun, als gäbe es sie nicht. So unfrei wir auch leben – gerade das Aufbegehren verrät unser – wenigstens indirektes - Wissen darüber, daß wir nach der "Zweiten Möglichkeit" streben. Es ist oft schwer auszuhalten, ein Verleugnen und Verdrängen, ein Sich-Selbst-Entschuldigen mit den Zwängen der Realität ist einfacher. Deshalb ist es wichtig, sich die grundsätzlich immer gegebene "Zweite Möglichkeit" immer wieder vor Augen zu halten.

So drängend es ist, endlich etwas zu tun für eine Freie Gesellschaft – aus dem Vorangegangenen ergibt sich, daß es (bezüglich der Vision, aber auch des Vorgehens) keine Dominanz irgendeiner Lösung für alle anderen geben darf. Keine Gruppe, kein Einzelner darf für die Interessen anderer instrumentalisiert werden. Dies ist eigentlich inzwischen Allgemeingut der emanzipativen Bewegung geworden. In den aktuellen Prozessen, der inhaltlichen Klärung in Attac und des Weltsozialforen-Bewegung, sollte hier weiter daran gearbeitet werden.

Literatur:

Holzkamp, Klaus (1983/1985): Grundlegung der Psychologie, Berlin-New York, siehe viel dazu auch unter http://www.thur.de/philo/kp/krps.htm oder http://www.kritische-psychologie.de

Projekt "Organisierung von Unten", z.B. In: CONTRASTE März 2002 (Nr.210), S. 1, 7-10; siehe auch Internet http://www.projektwerkstatt/von-unten

Spehr Christoph (2000): Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperation – zugleich Beantwortung der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gestellten Frage: "Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?", Berlin

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siehe auch "Theorie und Politik vom Subjektstandpunkt aus"

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