Gelesen:
Ronald D. Laing: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn.

Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994 (Orig. 1960):

Was geht das alles Gesunde an?

Im Vorwort deutet Laing an, daß jene, die von den angesprochenen Problemen betroffen sind, vielleicht adäquater auf die Lebenssituation reagieren, als manche von den "Normalen":
Deshalb möchte ich betonen, daß unser "normaler", "angepaßter" Zustand zu oft der Verzicht auf Ekstase ist, Verrat an unseren wahren Möglichkeiten, daß viele von uns nur zu erfolgreich darin sind, sich ein falsches Selbst anzuschaffen, um sich an falsche Realitäten anzupassen. (S. 12)

Zur Methode der existentiellen Psychologie

Der theoretische Ansatz des Autors beruht auf der Existentiellen Phänomelogie: Existentielle Phänomelogie versucht, die Beschaffenheit der Erfahrung einer Person über seine Welt und sich selbst zu charakterisieren. (S. 19) Das bedeutet, daß sie versucht, nicht Beschreibungen, Aussagen und Erklärungen ÜBER andere Personen, d.h. die Betroffenen als Objekte zu machen, sondern die Menschen aus sich selbst heraus zu verstehen. Es wird versucht, das Verhalten der Menschen in Bezug auf ihre existentielle Situation zu verstehen, Existenz ist "In-der-Welt-Sein" – um das Erfahren und Erleben des "In-der-Welt-Seins" geht es und insofern gehört "seine Welt" zu jedem Menschen dazu. Laing weigert sich, Menschen als Maschinen, als "organismische Systeme von Es-Prozessen" anzunehmen, sogar die scheinbar versteinerte, in sich tote Seinsweise eines Menschen hat ihre Begründung in der konkreten Form des "In-der-Welt-Seins" des Betroffenen. Die Praxis, die Äußerungen des Patienten niemals als wahnhaft und damit "falsch" abzutun, sondern in ihnen das Existentielle dieses Menschen zu suchen, ist verwandt mit dem Grundsatz der Kritischen Psychologie, den Betroffenen niemals als Objekt, sondern als Mit-Subjekt zu sehen. Außerdem wird – ohne daß es so genannt wird – immer berücksichtigt, daß alles noch so verrückt scheinende Verhalten für den Betroffenen einen Sinn macht, in Worten der Kritischen Psychologie: es ist "subjektiv funktional". Es kommt darauf an, "die Art und Weise, auf die der Patient er selbst in seiner Welt ist, zu rekonstruieren" (S. 29). Das bedeutet auch ein Aufgeben der üblichen wissenschaftlichen Objektivität, der Andere darf nicht nur als "Objekt in meiner eigenen Welt" gesehen werden, sondern ich muß selbst eine "Umorientierung vollziehen können, ohne im voraus zu urteilen, wer recht hat und wer unrecht hat." (S. 31).

Die Untersuchung des "In-der-Welt-Seins" bedeutet zuallererst, die typisch psychiatrisch-klinischen Umgangsformen mit Patienten zu hinterfragen. "Der typische psychiatrische Patient ist eine Funktion des typischen Psychiaters und des typischen psychiatrischen Krankenhauses" (S. 33). In der typischen psychiatrischen Welt fühlen sich viele Patienten berechtigt als bewertete und getestete Objekte und manches Verhalten von ihnen ist eine direkte abwehrende Reaktion darauf. Dieses Verhalten wird dann fälschlicherweise als "Symptom seiner Krankheit" gewertet, anstatt als Ausdruck seiner Existenz (S. 37). Statt die "Symptome" seiner Krankheit zu erfassen (was üblicherweise getan wird) muß einem Patienten zugesehen und zugehört werden. Es zeigt sich, "daß vieles von dem sonderbaren Verhalten des Psychotikers verstehbar wird, wenn wir es aus seiner Sicht sehen" (S. 198). Wahnideen enthalten eine existentielle Wahrheit, sie sind "wahr ... innerhalb des Bezugsschemas des Individuums, das sie trifft." (S. 184)

Zur Schizophrenie
Der Schizophrene ist ein Mensch ohne Hoffnung. Ich habe niemals einen Schizophrenen gekannt, der sagen konnte, daß er geliebt wurde, als ein Mensch, von Gott dem Vater oder von der Mutter Gottes oder von einem anderen Menschen. (S. 46) Das existentielle Grundproblem der Schizoiden und Schizophrenen (und sicher vieler anderer) unter uns ist die "Ontologische Unsicherheit". Alles Ontologische bezieht sich auf das Sein. Es geht um die Unsicherheit, zu sein. "Leben, ohne sich lebendig zu fühlen" (S. 49) ist eine Folge davon. Sie hatte kein eigenes Leben. Sie existierte bloß. Sie hatte keine Hoffnung, keinen "Antrieb", keine Bedeutung für sich selbst. Sie fühlte, wie sie sagte, daß "sie" unlängst "geradewegs untergegangen" war... (S. 186)

Anstatt Aktion, wie wir es normalerweise tun, für die Erreichung von Zielen einzusetzen, ... versuchte sie, sich bis zum Nullpunkt zu reduzieren, indem sie niemals irgend etwas Spezifisches tat... Sie handelte, als ob es möglich sei, sich nicht in ihre Aktionen "einzubeziehen". (S. 193)

Ontologische Unsicherheit

(Bemerkung von A.S.,
Die Ontologische Unsicherheit wird hier als Hintergrund für Schizoide und Schizophrene behandelt. Es scheint aber ein grundsätzlicheres Problem zu sein, und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Krankheitsbilder bevorzugt zu verursachen – heute sicher in großem Maße auch die Selbstverletzung und Magersucht! )

Ursachen:

Es ist wohl kein Zufall, daß in den Fallbeispielen häufig Menschen auftreten, die als Kind brav und perfekt den Vorstellungen ihrer Eltern entsprochen haben.

Seine Aktionen scheinen seit Beginn seines Lebens in einer beinahe totalen Unterwürfigkeit und Konformität mit den tatsächlichen Wünschen und Erwartungen seiner Eltern abgelaufen zu sein. D.h. er war ein perfektes beispielhaftes Kind, das niemals zur Last fiel. Nach meiner Erfahrung halte ich einen solchen Bericht über kindliches Verhalten für besonders unheilvoll, wenn die Eltern überhaupt nichts davon als verfehlt empfinden, sondern im Gegenteil alles mit offensichtlichem Stolz erwähnen. (S. 124).

Gar nicht oder nicht um seiner selbst willen geliebt zu werden, nicht "selbst gemeint" zu werden, sondern als Objekt betrachtet und behandelt zu werden, geschah und geschieht vielen. Bei manchem hat es weitreichende Auswirkungen.
  • "Brave" Kinder
Laing charakterisiert die Darstellung eines anderen "braven Kindes" als eine "Beschreibung eines Kindes, das in einem gewissen Sinn niemals lebendig geworden ist." (S. 225). Und das Besondere daran ist:
Die entscheidende Sache scheint mir zu sein, daß Frau X anscheinend gerade die Dinge, die ich als Ausdruck einer inneren Leblosigkeit des Kindes ansehe, als Ausdruck äußerster Gesundheit, Bravheit und Normalität ansieht. ...
Der entscheidende Punkt ist darum nicht... daß Mutter, Tante, Vater zusammen ein existentiell totes Kind beschreiben, sondern daß keiner der Erwachsenen in ihrer Welt den Unterschied kennt zwischen existentiellem Leben und Tod. Im Gegenteil, existentiell tot sein wird von ihnen mit höchstem Lob bedacht. (225)
Die Mutter freut sich "an denjenigen Aspekten des Verhaltens des Säuglings..., die am meisten tot waren." (S. 226), weil es nicht fordernd, sondern immer schön brav war. Umso erschütternder war sie, als Julie im Teenageralter nicht etwa dankbar war, sondern ihrer Mutter vorzuwerfen begann, "sie niemals allein gelassen zu haben" (S. 227) Die Frage ist nicht, wie artig oder unartig ein Kind ist, sondern ob das Kind ein Gefühl entwickelt, Ursprung seiner eigenen Aktionen zu sein, die Quelle zu sein, aus der seine Aktionen entstehen, oder ob das Kind das Gefühl hat, daß seine eigenen Aktionen nicht aus ihm selbst heraus erzeugt werden, sondern aus der Mutter heraus... (S. 229-230)
  • Depersonalisierung:

Man wird depersonalisiert, wenn die anderen nicht auf Gefühle reagieren, einen so behandeln, als hätte man keine (S. 56). Wenn man ständig so behandelt wird, versteinert man irgendwann tatsächlich.

Sich als ein "Es" behandelt zu sehen, läßt die eigene Subjektivität von ihm abfließen wie Blut vom Gesicht. Im Grunde braucht er von dem anderen konstante Bestätigung seiner eigenen Existenz als Person. (S. 57)

Man kann sich durch den anderen belebt und das Gefühl für das eigene Sein durch den anderen vergrößert finden, oder man kann den andern als tötend und verarmend erfahren. Eine Person kann zu dem Schluß gekommen sein, daß jede mögliche Relation mit einem andern die letzteren Konsequenzen haben wird. Jede andere Person ist dann eine Bedrohung für ihr "Selbst" (ihre Fähigkeit, autonom zu handeln). Nicht weil sie oder er etwas Bestimmtes tut oder nicht tut, eben seiner oder ihrer Existenz wegen. (S. 57-58)
Auch im Fall von Julie, verhinderte die "Bravheit" in der Kindheit die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit: Ihre Mutter war bereit, ein unterwürfiges falsches Selbst zu akzeptieren, diesen Schatten zu lieben und ihm alles zu geben. Sie versuchte sogar, diesem Schatten zu befehlen, zu handeln als ob er eine Person sei (tanzen gehen, A.S.). Aber sie hatte niemals die reale beunruhigende Präsenz einer Tochter mit eigenen Möglichkeiten anerkannt. (S. 237)
  • Fehlende Liebe im Babyalter (fehlendes "Urvertrauen")
Jeder sollte in seiner Erinnerung zurückblicken und sicher sein können, eine Mutter gehabt zu haben, die ihn liebte, alles an ihm, sogar seinen Schiß und Piß. Er sollte sicher sein, daß seine Mutter ihn liebte um seiner selbst willen und nicht der Dinge wegen, die er tun konnte. Sonst glaubt er, er habe kein Recht zu existieren. Er glaubt, er hätte niemals geboren werden dürfen.
Egal was dieser Person im Leben passiert, egal, wie sehr ihr weh getan wird, sie kann immer darauf zurückschauen und fühlen, daß sie geliebt werden kann. Sie kann sich selbst lieben und sie kann nicht gebrochen werden. Wenn sie nicht auf so etwas zurückgreifen kann, kann sie gebrochen werden.
Du kannst nur gebrochen werden, wenn du schon in Stücke gebrochen bist. (Eine Betroffene, zit. S. 212)
  • Rolle der Mutter
Laing negiert nicht die Rolle umfassender sozialer Zusammenhänge, orientiert aber auf die Analyse desjenigen sozialen Zusammenhangs, welcher für wichtige Situationen des Betroffenen der gerade Maßgebliche ist und meist Familienangehörige umfaßt. Er spricht sich auch gegen die Überbetonung der Rolle der Mutter dabei aus (es gab wohl eine Debatte über die schizophrenogene, d.h. schizophrenieverursachende Rolle der Mütter, die er in dieser Absolutheit ablehnt, s.S. 232).

An mehreren Fallbeispielen findet er jedoch:

  • "... daß in der Entwicklung des Selbst die Erfahrung von sich selbst als Person unter den liebenden Augen der Mutter eine notwendige Komponente ist" (S. 144)
  • "Es kann sein, daß mangelnde Antwortbereitschaft der Mutter in bezug auf den einen oder anderen Aspekt des kindlichen Seins wichtige Konsequenzen hat" (S. 144).

Sehr vorsichtig formuliert Laing:

Es gibt anscheinend einige Formen, Mutter zu sein, die genetisch bestimmte angeborene Tendenz zur Erreichung der primären Entwicklungsstufen ontologischer Sicherheit hin, die im Kind vorhanden sein mag, eher behindert als erleichtert oder "verstärkt". (S. 233)

Reaktionsweisen auf diese Ontologische Unsicherheit:

Wenn ein Mensch sich seiner Lebendigkeit nicht sicher sein kann, muß er "ständig Wege finden, um zu versuchen, real zu sein, sich oder andere lebend zu halten, seine Identität zu erhalten, alles in dem Bemühen zu verhindern... sein Selbst zu verlieren" (S. 51). Eigentlich alles läßt sich damit verstehen. Das z.T. "verrückte" Verhalten hat durchaus einen Sinn für den Betroffenen, es ist "subjektiv funktional", weil ihm andere Möglichkeiten, diese ontologische Unsicherheit auszuhalten, verschlossen sind bzw. erscheinen.

  • Selbst-Vergewisserung
Eine wohl typische Verhaltensweise für ontologisch Unsichere ist die ständige Selbst-Vergewisserung seiner Existenz dadurch, daß es sich immer kritisch beobachtet fühlt. (S. 131). Sie streben immer nach einer Selbst-Vergewisserung (die Laing mißverständlich "Selbst-Bewußtheit" nennt). Eine Betroffene äußerte z.B.: "... ärgert euch nicht, wenn ich sage, daß es der Zweck meines Lebens ist, von den Leuten angeschaut zu werden." (S. 134)
All seine Gedanken kreisen ums Gesehenwerden. Seine Sehnsucht ist es, gekannt zu werden. Aber das ist es auch, was er am meisten fürchtet. (S. 141)

Typisch ist auch, daß der immer gefühlte Blick von außen immer als "kritisch und bemängelnd" vorgestellt wird (S. 133).

  • Was passiert bei Schizoiden bzw. Schizophrenen?
Zentral für den schizoiden Zustand ist die Spaltung zwischen dem inneren und einem äußeren, dem falschen Selbst. Das ist meist verbunden mit der Trennung des inneren Selbst vom Körper.

Diese Abtrennung des inneren Selbst vom Körper bzw. dem falschen Selbst ist als eine Schutzreaktion zu verstehen (subjektive Funktionalität).

Das schizoide Individuum errichtet... keine Abwehr gegen den Verlust eines Teils seines Körpers. Sein ganzes Bemühen zielt darauf, sein Selbst zu erhalten. Das Selbst hat,... eine prekäre Existenz, es ist der Furcht vor seiner eigenen Auflösung in Nicht-Sein unterworfen... Die Autonomie des Selbst ist vom Verschlungenwerden bedroht. Es muß sich schützen vor dem Verlust seiner Subjektivität und seines Gefühls, lebendig zu sein... Das Individuum fürchtet eine reale lebendige dialektische Beziehung mit realen, lebendigen Leuten... Wir schlagen darum vor, daß der schizoide Zustand... als ein Versuch verstanden werden kann, ein Sein zu erhalten, das unsicher strukturiert ist. (S. 94) Das innere Selbst wird geschützt vor körperlicher und seelischer Bedrohung, es zieht sich zurück und überläßt es dem äußeren, falschen Selbst, die Interaktionen mit der Umwelt zu realisieren. Das falsche Selbst "entsteht in Konformität mit den Intentionen oder Erwartungen der anderen oder mit dem, was wir für die Intentionen und Erwartungen des anderen halten" (S. 121) – z.B. ein "braves Mädchen sein".

Was bringt diese Trennung den Betroffenen? (wieso ist das "subjektiv funktional"?)

  • Sicherheit des wahren, inneren Selbst vor Verletzung von außen.
  • Das innere Selbst wird nicht bestimmt, es bleibt unbestimmt, beliebig. Es kann nicht festgelegt, d.h. versteinert werden (das, was die anderen von ihm sehen, von ihm sagen, betrifft nur das falsche Selbst).
  • Gefühl der Freiheit für das innere Selbst, das verloren zu gehen droht, wenn es sich der Realität überläßt (S. 106), bzw. in Aktion übergeht (® Erstarren in Passivität) In dieser Passivität, Nichtfestgelegtheit kann es sich unbedingte Freiheit, Macht, Kreativität erträumen
Für das schizoide Individuum wird direkte Teilnahme am Leben empfunden als ständiges Risiko, durch das Leben zerstört zu werden, da die Isolation des Selbst... als Versuch zu verstehen ist, sich in Ermangelung eines gesicherten Gefühls der Autonomie und Integrität selbst zu erhalten (S. 110-111).

Gesunde Situation:

Gestörte Situation:

Das Zurückziehen des inneren Selbst führt jedoch zu einer Verschlimmerung der Situation (S. 98ff.). Die Schutzmauer wird zum Gefängnis für das innere Selbst.

Du kannst dich zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist dir freigestellt und entspricht deiner Natur, aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten das einzige Leid, das du vermeiden könntest. (Kafka, zit. S. 96)

  • Alle Transaktionen mit der Umwelt werden auf das falsche Selbst delegiert, die Welt wird als unreal erfahren und Bedeutungshaftigkeit verschwindet.
  • Das innere Selbst wird niemals etwas spontan und unmittelbar erfahren, die Beziehung zum Anderen erfolgt immer "auf Abstand",
  • Das innere Selbst fühlt sich außerhalb aller Erfahrung und Aktivität "Es wird zu einem Vakuum" (S. 98), ® Sinnlosigkeit, Leere, Ziellosigkeit
Das Selbst ist durch seine Losgelöstheit von einer vollen Erfahrung der Wirklichkeit und Lebendigkeit ausgeschlossen. Was man eine kreative Beziehung mit dem anderen nennen kann, in der eine gegenseitige Bereicherung des Selbst und des anderen (positiver Kreis) erfolgt, ist unmöglich, und eine Inteaktion wird an deren Stelle gesetzt, die vielleicht für eine Weile effizient und reibungslos zu funktionieren scheint, die aber kein "Leben" in sich hat (sterile Beziehung). Eine quasi-Es-Es-Interaktion tritt an die Stelle einer Ich-Du-Beziehung. Diese Interaktion ist ein toter Prozeß. (S. 101)

... dieses abgesperrte und isolierte Selbst kann nicht durch äußere Erfahrung bereichert werden, und so verarmt die ganze innere Welt immer mehr, bis das Individuum sich schließlich als bloßes Vakuum empfindet. (S. 96)

Das schizoide Individuum... ist darauf vorbereitet, alles abzuschreiben, was es ist, nur nicht sein "Selbst". Aber das tragische Paradoxon besteht darin, daß das Selbst, je mehr es auf diese Art verteidigt wird, desto mehr zerstört wird. (S. 95) Bei der Flucht vor dem Risiko, getötet zu werden, stirbt es. (S, 175)

Man muß in der Welt mit anderen Leuten leben. Wenn man das nicht tut, stirbt etwas innen. (S. 166)

Eine Betroffene schrieb ein langes Gedicht, das folgende Zeilen enthielt: Die Leute draußen wollen mich nicht.
Die Leute hier drin wollen mich nicht.
Mir ist es egal.
Die Höhlenwände sind so rauh und hart.
Bald bin ich ein Teil von ihnen, hart
und unbeweglich. Sehr hart. (S. 209)

Schizoid sind auch viele "normale" Menschen. Zur manifesten Psychose kommt es dann, wenn der "Schleier des falschen Selbst" plötzlich weggenommen wird (S. 123). Aus dem "braven Mädchen" wird plötzlich ein "böses Mädchen" und schließlich ein "verrücktes" (siehe Fallbeispiel Julie, S. 221). Eine Tochter wirft z.B. ihrer Mutter erst vor, sie selbst töten zu wollen (böse Phase) und dann, andere Kinder getötet zu haben (verrückte Phase). Alle scheinbar absurden Aussagen und Verhaltensmuster müssen nun aus Sicht der existentiellen Psychologie entschlüsselt werden. Gesucht ist "der Sinn... in dem dieser "Wahn" wahr ist" (S. 123). Es kann z.B. sein, daß sich das innere Selbst der Tochter von ihrer Mutter von Anfang an unterdrückt und abgetötet gefühlt hat, weil diese ein "braves Mädchen" wollte ...

Laing beschreibt nur wenige Fälle, in denen die als typisch bekannte Aufteilung in Persönlichkeiten auftritt. In ihnen und auch den anderen Fällen taucht immer wieder die Situation auf, daß die Betroffenen ihre Situation als "getötete Kinder" vorstellen. Ich erinnere mich an zwei verschiedene Dokumentarfilme über Schizophrene aus den letzten Monaten. In beiden wurde nahe gelegt, daß die Ursache der Schizophrenie in sehr schweren Kindheitstraumen liegt und bei beiden hatten diese etwas mit einem Sektenumfeld zu tun. Es wurde nahe gelegt anzunehmen, daß diese Menschen in ihrer frühen Kindheit zumindest einen Kindsmord durch die Sekte miterlebt hatten. Die Fernsehleute fuhren mit den Frauen sogar zu irgendwelchen geheimnisvollen Schloßgrüften... Vielleicht war das doch eine Täuschung und Mißinterpretation der Bedeutung der Aussage.

Gibt es Therapiemöglichkeiten?

Die wichtigste Therapie wäre, so viel wie möglich Bedingungen auszuschalten, die zu Schizoidität und zur Psychose führen. Auch wenn die Aufteilung der Selbste schon geschehen ist, könnte der Ausbruch der Psychose wohl aufgehoben werden, wenn jemand "irgendeinen Sinn in ihren Aussagen sehen könnte, ob er richtig war oder falsch" (S. 237). Bevor sie für "verrückt" erklärt wurde, weil sie ihrer Mutter vorwarf, ein anderes Kind getötet zu werden, hatte Julie in ihrer "bösen" Phase klar und deutlich gesagt, daß sie sich von ihrer Mutter erstickt fühlte, daß sie nicht zu einer Person werden konnte... Aber ihre Eltern weigerten sich, "irgendeinen der Vorwürfe, die Julie ihnen machte, "zu Herzen zu nehmen"." (S. 236).

Über die Therapie nach dem Auftreten der Psychosen schreibt Laing sehr wenig. Zum Verstehen der Problematik ist das Ernstnehmen der Perspektive des Betroffenen wichtig: Nur wenn man imstande ist, von dem Individuum selbst die Geschichte seines Selbst zu erfahren, und nicht das, was eine psychiatrische Anamnese unter diesen Umständen gewöhnlich ist, nämlich die Geschichte des Falschen Selbst-Systems, wird seine Psychose erklärbar. (S. 182) Es ist wohl auch eine Voraussetzung für eine Linderung des Leids der Betroffenen. Wird das innere Erleben nicht berücksichtigt, hat die eine Therapie keine Chance: Meine Ärzte versuchten bloß, ein "braves Mädchen" aus mir zu machen und die Dinge zwischen meine Eltern und mir wieder in Ordnung zu bringen. Sie versuchten, mich meinen Eltern anzupassen. Das war hoffnungslos. Sie konnten nicht sehen, daß ich mich nach neuen Eltern und nach einem neuen Leben sehnte. (S. 214) Allerdings werden die Betroffenen sich weigern, jemanden an ihr wirkliches inneres Selbst heranzulassen. Im Prinzip sind viele Verhaltensweisen in den Kliniken vor allem als Abwehrmechanismen gegenüber der (unangemessenen) Behandlung zu verstehen. Ich bin ganz sicher, daß eine nicht geringe Anzahl "Heilungen" von Psychotikern darin besteht, daß der Patient sich aus dem einen oder anderen Grund entschlossen hat, noch einmal gesund sein zu spielen. (S. 183) Nur aus einer intersubjektiven Perspektive, wie es die Kritische Psychologie nennt, besteht eine Hoffnung auf wirkliche Verbesserung: Die Aufgabe der Therapie ist dann, Kontakt mit dem ursprünglichen "Selbst" des Individuums zu bekommen, das, wir wir glauben dürfen, immer noch eine Möglichkeit ist, wenn nicht Realität, und das immer noch geheilt werden kann zurück zu einem möglichen Leben. (S. 196) Wer sich ihnen angemessen nähern will, muß die Paradoxie durchbrechen, daß die Betroffenen versuchen werden, auch diese Interaktion durch ihr falsches Selbst erledigen zu lassen, und daß sie sich fürchten, jemanden an ihr inneres Selbst zu lassen - aber sie genau dies brauchen. Das Selbst fühlt sich, wie ein Patient sagte, schon in einer normalen Konversation zermalmt und zerquetscht. Trotz seiner Sehnsucht, seines "wahren" Selbst wegen geliebt zu werden, entsetzt Liebe den Schizphrenen. Jede Form des Verstehens bedroht sein ganzes Abwehrsystem. (S. 201)

Gleichzeitig sehnt sich das Selbst danach, verstanden zu werden; sehnt sich in Wirklichkeit nach einer ganzen Person, die sein totales Sein akzeptieren kann, und in dem sie das tun, ihn einfach "sein läßt". Aber man muß mit großer Sorgfalt und Umsicht vorgehen. "Versuche nicht", wie Binswanger sagt, "zu nahe zu kommen, zu bald." (S. 201)

Der wichtigste Ausgangspunkt ist: Der Hauptfaktor bei der Reintegration des Patienten, der erlaubt, die Stücke zusammenzubringen, ist die Liebe des Arztes, eine Liebe, die das totale Sein des Patienten anerkennt und es akzeptiert, ohne ihm Fesseln anzulegen. (S. 203) Der Betroffene muß die Sicherheit haben, daß nicht äußerliche Vorstellungen und Ideen auf ihn als Objekt projiziert werden, sondern daß "auch sein Selbst gewollt ist." (S. 204).

Praktisch kann die Paradoxie auch nur unter großen Widersprüchen gelöst werden: Am Anfang muß Haß sein. Der Patient haßt den Doktor, weil er die Wunde wieder öffnet, und er haßt sich selbst, weil er es zuläßt, daß sie wieder angerührt wird. Der Patient ist sicher, alles wird ihn nur noch mehr verletzen. ...
Der Doktor muß sich die Mühe geben, hinter dem Patienten her zu sein, bis der anfängt, ihn zu hassen. Wenn du haßt, wirst du nicht so leicht verletzt, als wenn du liebst; aber du kannst wieder lebendig sein, nicht bloß kalt und tot. Leute bedeuten wieder was für dich. (S. 205)
Ich glaube, dies ist eine wichtige Erkenntnis. Dieses Verhalten, nur durch Haß jemanden an sich heran zu lassen, ist auch ein Schutz des anderen. Der Betroffene vermutet oft, daß der andere ebenfalls verletzt würde, wenn er ihn an sich heranlassen würde. Er bekäme dann noch mehr Schuld. Wenn der Andere sich jedoch hereinkämpfen muß, fällt diese Schuld von ihm ab (S. 206f.). Der Doktor muß zeigen, daß er den Haß fühlen kann, ihn aber auch verstehen kann und nicht durch ihn verletzt wird. (S. 207) Eine Betroffene schildert die Grundbedingung für Heilung: Solange wie mein Baby-Selbst nie geliebt worden war, war ich darum in Stücke zerbrochen. Indem Sie mich wie ein Baby liebten, machten Sie mich ganz." (S. 212)

Es war furchtbar schwer für mich aufzuhören, schizophren zu sein... Als ich sicher war, daß ich mich als Ihr Kind fühlen konnte und daß Sie mit Liebe für mich sorgen würden. Wenn Sie mein wirkliches Ich gern haben konnten. Dann konnte ich es auch. Ich konnte mir erlauben, bloß ich selbst zu sein, und brauchte kein Etikett mehr. (S. 213)

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