Umfassende Bereiche:

Autopoiesis

Das Modell der Autopoiesis verdeutlicht viele Systemzusammenhänge, die bisher zu wenig beleuchtet wurden. Es kennzeichnet spezielle autonome Systeme, die besonders komplex sind. Deshalb weist es auf Merkmale komplexer Systeme hin, die auch in anderen Bereichen von Bedeutung sind. Die Anwendung auf die menschliche Gesellschaft ist besonders aktuell und umstritten. Ich fasse einige Tendenzen der Diskussion zusammen.

Die Erkenntnis im Gehirn ist so ziemlich der komplexeste Prozeß, den wir im Universum kennen. Die Strukturiertheit gerade dieses Prozesses kann deshalb ein Modell für alle komplexen Systeme sein.

Spezielle Aussagen aus der neueren Erkenntnistheorie wurden im Konzept der Autopoiese durch Varela und Maturana zusammengefaßt. Dazu gehören:

  • Selbstreferentialität :die eigenen Zustände werden nur intern gesteuert.
  • operative Geschlossenheit :das Gehirn nimmt nur eigene Zustandsveränderungen wahr, ein Reiz von außen kann nur Selbstveränderung initiieren, die dann wahrgenommen wird.
  • strukturelle Kopplung zur Umwelt: das System wählt seine Außenkontakte selbst aus.

Dies stützt den erkenntnistheoretischen Konstruktivismus.

Diese Eigenschaften finden sich im übertragenen Sinne auch bei den Lebensprozessen wieder:

  • Zirkularität: Eine Zelle propuziert ihre eigenen Elemente durch das Netzwerk ihrer eigenen Element. (vgl. auch zirkuläre Kausalität in der Synergetik bei Haken).
  • Dadurch wird auch der eigene Rand selbst erzeugt. Bestandteile können nun ausgetauscht werden, aber die Identität des Systems (der System-Umwelt-Differenz bezeichnet dies Luhmann) bleibt erhalten (Roth).
  • "Ein organisches System ist ein offenes energetisch-stoffliches System und zugleich ein geschlossenes Kontrollsystem..." (H.Wessel 1961).
  • Die Systeme werden zu Subjekten, "die sich durch eine Bestimmung von Objekten in der zunächst unbestimmten Umwelt neuorganisieren und somit ihre eigene Evolution realisieren. Sie produzieren ihr Neues selbst, d.h. sie realisieren Selbstbewegung, die fundamentale Eigenschaft aller in ihrem Entwicklungszusammenhang begriffenen Materie." (Beurton, P.1990).

Zusammenfassend:

"Es gibt eine Klasse von Systemen, bei denen jedes Element als eine zusammengesetzte Einheit (System), als ein Netzwerk der Produktion von Bestandteilen definiert, ist, die

(a) durch ihre Interaktion rekursiv das Netzwerk der Produktionen bilden und verwirklichen, das sie selbst produziert hat;

(b) die Grenzen des Netzwerks als Bestandteile konstituieren, die an seiner Konstitution und Realisierung teilnehmen; und

(c) das Netzwerk als eine zusammengesetzte Einheit in dem Raum konstitutieren und realisieren, in dem es existiert." (Maturana 1978)

Selbstreferentielle Autonomie wurde mit anderen Worten schon von Hegel betrachtet: "Das Individuum ist Beziehung auf sich dadurch, daß es allem anderen Grenzen setzt; aber diese Grenzen sind damit auch Grenzen seiner selbst; Beziehungen auf Anderes, es hat sein Dasein nicht in ihm selbst."

In der Anwendung auf die Gesellschaft gibt es vielfältige Konzepte, hier unterscheiden sich auch Varela und Maturana deutlich voneinander:

Varela will keine Anwendung der Autopoiesis auf die menschliche Gesellschaft. Die Gesellschaft ist bei ihm höchstens autonom, aber nicht autopoietisch ("es wäre sehr an den Haaren herbeigezogen, die sozialen Interaktionen als Produktion ihrer Komponenten zu bezeichnen").

Bei Maturana dagegen emergiert das autopoietische soziale System aus den Interaktivitäten der Teilnehmer.

Dieses Konzept entwickeln u.a. Luhmann und Hejl auf unterschiedliche Weise weiter.

Viele komplexe, dynamische Systeme (als Wirklichkeitsbereiche mit für sie wesentlichen Zusammenhängen) im Nicht-Gleichgewicht sind:

- selbstreferentiell geschlossen (weil sie ihre eigenen Systemoperationen definieren) und

- selbsterzeugend (weil sie ihre eigenen Anfangs- und Randbedingungen erzeugen - dies gilt eigentlich nur für Zelle) und

- autopoietisch (weil sie ihre eigenen Elemente erzeugen) und

- selbstorganisierend (weil sie am Bifurkationspunkt spontan neue Zustände hervorbringen).

Die das System bildenden Elemente sind selbst auch Systeme und jedes System ist Element anderer, umfassender Systeme.

Auf die Menschen angewendet bedeutet das:

Jeder einzelne Mensch ist selbstreferentiell geschlossen, selbsterzeugend, autopoietisch und selbstorganisierend und menschliche Gemeinschaften/Gesellschaften mit Systemcharakter (also Ganzheiten mit für sie typischen wesentlichen Zusammenhängen) sind selbstreferentiell geschlossen, selbsterzeugend, autopoietisch und selbstorganisierend.

Jede Verabsolutierung einzelner Aspekte führt zu falschen Globalaussagen. Einige Gefahren und Möglichkeiten seien kurz angedeutet:

Autopoiese
des Menschen
Autopoiese
der Gesellschaft
Selbstorganisation des Menschen
Selbstorganisationde Gesellschaft
Reduktion auf biologisch-chemisch-kognitive Aspekte Gesellschaft bleibt identisch, keine Entwicklung Komplexographie (Niedersen) sensible Phasen der Individualentwicklung  
keine Entwicklungssprünge, keine Einbeziehung der Gesellschaft Gesellschaftsapologetik (Luhmann) Gesellschaft zumindest als gegebene Randbedingung Gefahr, die menschlichen Individuen als Subjekte hinter den Systemgesetzen verschwinden.
Ko-Evolution aller Ebenen bei allseitiger Wechselwirkung
Ein etwas tiefergehender Vergleich der verschiedenen Konzepte wird im Anhang des zweiten Bandes meines Buches "Daß nichts bleibt, wie es ist..." erscheinen.

Literatur:

Beurton, P., Werkzeugproduktion im Tierreich und menschliche Werkzeugproduktion, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 12/1990
Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 121
Hejl, P.M.. Grenzen des Wissens oder Grenzen der Analytik? In: Ethik und Sozialwissenschaft 4(1993) Heft 1, S. 32ff.
Hejl, P.M., Konstruktion der sozialen Konstruktion: Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheorie, In: Schmidt, S.J. (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a.M.
Luhmann, N., Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1984
Maturana, H.: In: Kognition, Hrsg. Schmidt, S.J.
Maturana, H.: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig, Wiesbaden, 1982
Mocek R., Bergner D.: Gesellschaftstheorien, Berlin (DDR) 1986
Niedersen U., Die Komplexographie - Eine Beschreibungsmöglichkeit beliebiger getriebener Systeme. Fallstudie: Raphael Eduard Liesegangs Leben und Werk unter Beachtung einiger Aspekte der Selbstorganisation, In: Komplexität - Zeit - Methode (II) Halle 1988
Roth, G., Selbstreferentialität und Dialektik zur Ontologie und Epistemologie lebender Systeme, In: Annalen der internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie Societas Hegeliana V 1988, S. 89 ff.
Wessel, H., Viren-Wunder-Widersprüche, Berlin (DDR) 1961

siehe auch:

oder siehe untenSystemtheorie  AutopoieseSelbstorganisationEntwicklungsprinzipienGesellschaftstheorienAttraktoren und ChaosChaosZukunft zum Selbermachen

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