Schmetterlinge verändern die Welt!  

Wissenschaftliches Erkennen zielt auf Gesetzmäßigkeiten, die in allem Geschehen eine Bestimmtheit erkennen läßt, die aus der eigenen Natur (ihrem Wesen) der Sache und den jeweiligen Umständen herrührt.
Alles Geschehen erscheint dadurch festgelegt und alle Änderungen scheinen "gesetzmäßig" vorherbestimmten Pfaden zu folgen.
Diese Festlegung mag im Bereich der Natur noch akzeptabel erscheinen - in der Welt der Menschen opponiert der freie Wille gegen diese Festlegung. J.G.Fichte begründete vor 200 Jahren mit dem Ausbruch wenigstens des Ideellen aus dieser Bestimmtheit die idealistische klassischen deutschen Philosophie.

Daß es in der natürlichen Evolution auch Zufälle wirken, ist inzwischen nicht mehr abzustreiten. Zufälle sind nicht nur "Versehen" der Gesetze - sondern alle natürlichen Prozesse "spielen" einen Raum von Möglichkeiten voll aus. Gesetze wirken nur auf statistische Weise, die Zukunft ist immer bedingt offen.

Im Ganzen stellt die Welt kein chaotisches Durcheinander dar, sondern das Spiel des Geschehens im Möglichkeitsraum bleibt in überschaubaren, verläßlichen Rahmen, die das Leben ja auch braucht. Das "Ausflippen" aus diesen Rahmen geschieht aber immer wieder. Überläßt es uns nun wieder hilflos den nichtbeherrschbaren Mächten der Natur und Gesellschaft wie in der vorwissenschaftlichen Zeit?

Zumindest wissen wir direkt aus der Wissenschaft, was es mit dem "Ausflippen" auf sich hat: Jeder Prozeß verändert sich selbst und seine Umwelt. Erst unmerklich - dann aber bis zu dem Maße, bei dem er nicht mehr unverändert weiter prozessuieren kann. Dann gibt er seine bisherige Form, sein bisheriges Sein auf, wird zu etwas Anderem, etwas Neuem und ein neuer Prozeß beginnt unter den neuen, veränderten Bedingungen seine Reproduktion. Die hegelsche Dialektik kennt dies als Qualitätssprung.

Die Mathematik kann diesen abrupten Vorgang nachvollziehen, seit sie sich auf nichtlineare Prozesse einlassen kann - mit Hilfe des Computers. In nichtlinearen Prozessen gibt es nicht nur einen In- nun einen direkten Output - sondern der Output wirkt selbst wieder als Input oder verändert diesen gleich- oder gegensinnig. Dies ist das kybernetische Modell für den oben genannten Prozeß, der sich und seine Umwelt selbst verändert.

Diese Mathematik - die man selbst auf dem Computer simulieren kann, zeigt uns, daß eine nichtlineare (iterative) Gleichung mehr als eine Lösung haben kann:

 

Der Parameter r kennzeichnet die Entfernung von einem Gleichgewicht und hängt i.a. von den Umweltbedingungen ab. Da diese durch den Prozeß selbst verändert werden können, ergibt sich eine gewisse Zeitabhängigkeit (aber keine Identität der Zeit mit r!).

Bei fortschreitendem Parameter r (nach rechts) kommt eine Stelle, an der sich plötzlich mehrere mögliche Lösungen ergeben. Diese Stelle wird auch "Bifurkationspunkt" genannt. Folgt man streng dem Rechenprozeß und einigen chemischen und biologischen Beispielen, so werden die Möglichkeiten zeitlich und auch räumlich immer abwechselnd eingenommen. Diese Rechnung (und die Fälle, bei denen diese Regelmäßigkeit vorliegt) abstrahiert jedoch von den immer vorhandenen Fluktuationen im mikroskopischen Bereich. Berechnungen mit Wahrscheinlichkeitsfunktionen für diese Fluktuationen zeigen, daß es von klitzekleinen Fluktuationen genau im Bifurkationspunkt abhängt, welchen der möglichen Wege der Prozeß nach diesem kritischen Punkt weiterfolgt. Als Vergleich für die sensible Abhängigkeit von einer kleinen Veränderung dient oft der Schmetterlingsflügelschlag, der auf einem anderen Kontinent einen Sturm auslösen kann. Im Gesamtbild dieses neuen wissenschaftlichen Ansatzes ist das Ergebnis jedoch nicht nur ein Sturm oder Orkan - sondern eine neue Art des Prozesses, eine neues Wirkungsmuster, eine neue Ordnungsstruktur der Realität (durch Selbst-Organisation).

In der Meteorologie wurde dieser Effekt Ende der 60er Jahre erstmalig entdeckt, als mehrere Computersimulationen wetterbeschreibender verkoppelter nichtlinearer Gleichungen mehrmals gemacht wurde, wobei lediglich geringe Veränderungen der Anfangsdaten vorkamen (Rundung). Obwohl der Entdecker dieses Effekts, Lorenz, eher vom Flügelschlag von Tauben sprach, setzte sich die Schmetterlingsmethaper durch.

Auf vielfältige Weise setzte sich diese faszinierende neu Weltsicht durch - Chaostheorie, Fraktale, Selbstorganisation und Synergie wurden zu Modebegriffen. Jede einzelne betonte verschiedene Schwerpunkte: wie Schmetterlingseffekt, Bildung neuer Ordnungszustände durch Selbstorganisation mit synergetischen Effekten und fraktalen Mustern etc. Schon muß man sich wehren gegen ungerechtfertigte Übertragungen dieser Denkmuster, ihre Überhöhung, ihre Überspitzung. Nichtsdestrotz führt das Wissen um die Muster von plötzlichen Zustands-, Verhaltens- und Entwicklungsmustern zu besserer Orientierung in der Welt und dem eigenen Handeln.

 

Menschliche Kräfte mögen klein gegenüber den sie beherrschenden Mächten sein. Sie können die Kraft der Schmetterlinge nutzen...

 
   

...dann kann es geschehen, daß selbst schwache Schmetterlinge Mauern durchbrechen...

 

 


(Achtung, 371 kB lang...!)

--- Annette Schlemm - Zukunftswerkstatt Jena - 20.12.98 ---

siehe auch:

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