Umfassende Bereiche:


Ordnung im Chaos?

... nach einem Diskussionswochenende in der Thüringer Jugendumweltbewegung:

Chaos in den Köpfen - ist das alles, was bleibt nach den Gesprächen? Wir haben verschiedene Meinungen gehört und können nun drüber nachdenken. Es wurde nichts vorgegeben, nichts festdefiniert. Es steht uns also frei, etwas daraus zu machen.

Ich möchte meine Gedanken dazu vorstellen, vielleicht interessiert es jemanden...

1. Chaos-Begriffe

In der Realität gibts verschiedene Formen von Unbestimmtheit, Zufälligkeit, des Nicht-Festgelegtseins, der Offenheit, ... des Chaos. Bleiben wir bei den allgemeineren Begriffen der Umbestimmtheit, Zufälligkeit:

Da gibt es:

Bifurkation

Lösungsvielfalt in:

a) der trüben Brühe:
nur eine Lösung
b) Das Aufbegehren
am Bifurkationspunkt
c) danach etabliert sich i.a. neue Ordnung
d) turbulentes "geordnetes Chaos"

a) Die trübe Brühe:

Da schwimmen alle Partikel völlig ohne gegenseitige Beziehung oder Wechselwirkung so vor sich hin, stoßen manchmal einfach nur aufeinander, prallen wieder ab und schwirren ohne Ziel weiter... (Brownsche Bewegung). In dem Ganzen ist keine Dynamik, keine Bewegung, nur die "Freiheit" alles zu können - aber nichts zu erreichen. Letztlich ist alles undifferenziert und "alles eins". Die Gleichung, die die obige Abbildung erzeugt, hat hier nur eine "einfache" Lösung.

b) Das Aufbegehren:

Irgendwoher kommt aber immer wieder etwas Energie. Die Flüssigkeit wird warm, schließlich heiß. Man kann nicht mehr einfach so dahinleben. Irgendwas begehrt auf. Alles Alte wird in Frage gestellt. Das Neue ist noch ungewiß. Jeder will etwas anderes... Aber anders muß es werden. Aus alten Ordnungen wird ausgebrochen, neue werden gesucht. Dazwischen gibts eine Situation, wo alles offen ist (wie teilweise während der Wende in der DDR, auch nach der Februar-Revolution 1917 in Rußland...). Erst im Nachhinein wissen wir genau, was draus geworden ist - aber mittendrin ist alles unbestimmt, offen - chaotisch. (Für diese Bedingungen hat die Gleichung mehrere mögliche Lösungen, so wie x bei x2=4 sein kann: x=+2 oder x=-2 ).
Diese zeitweise Unbestimmtheit wird auch "Schmetterlingseffekt" genannt, weil jetzt das Schlagen eines Schmetterlingsflügels in Europa einen Tornado in Amerika auslösen kann - kleine Ursachen also extrem verstärkt werden können.

c) Aber danach...:

Meistens etabliert sich nach dem Aufbegehren schnell eine neue Ordnung. (Das Pendel ist entweder bei +2 oder bei -2 stehengeblieben, genauer ist es ein Pendel, das jetzt um einen von zwei möglichen Punkten rumeiert.). Die bestimmt dann wieder fast alles. Interessanterweise ist der Raum der offenbleibenden Möglichkeiten, der Freiheit, danach trotz alledem größer geworden als er vorher war (Sklaverei Fronbauern Lohnarbeiter ...). Das ist nicht zu unterschätzen. Niemals ist die Welt so, wie sie vorher war. Und jetzt, so um die Jahrtausendwende, haben wir vielleicht (aber nur, wenn alle mitmachen, das kann ich nicht theoretisch herbeizwingen) die Chance, etwas grundlegend Neues zu etablieren:

d) Turbulenz

Dabei sind die Möglichkeitsfelder so weit geöffnet, daß grundlegend neue Strukturen möglich werden: die dezentral vernetzten, aber trotzdem souverän selbständigen dezentralisierten (in der Größe den menschlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten angepaßten und ökologisch verträglichen) Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaften. Es gibt da die "Wirbel" - als offene, trotzdem Geborgenheit spendende Gruppen - in einer ständigen selbst-bestimmten gegenseitigen Vernetzung. Und das Ganze ergibt eine dynamische Bewegung - als Modell kann die turbulente Strömung dienen.

Was ich da aufgeschrieben habe, habe ich mir nicht einfach so einfallen lassen. Es sind Grundformen selbstorganisierter Prozesse in Natur und Gesellschaft. Dazu hab ich ein ganzes Buch geschrieben, deshalb hier jetzt nur noch eine Abbildung, die das verdeutlicht. Die Physik oder Biologie dazu lasse ich hier weg - ich denke aber, daß Ihr diesem Bild noch oft begegnen werdet.

Ich selbst nenne d) auch Chaos - und insofern gibts für mich durchaus Ordnung im Chaos (die schönen Fraktalbilder sind Abbildungen von Lösungen mathematischer Formeln, die die Verhältnisse genau dort darstellen!).


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Ich habe am Wochenende gelernt, daß die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Chaos nur a) kennen und schlage deshalb als allgemeinen Begriff, um weiter darüber zu diskutieren, die SELBST-ORGANISATION vor.

2. Noch etwas zur Anwendung:

a) Einsame Freiheit

Manche Menschen müssen ausbrechen aus zu engen Ordnungsprinzipien. Sie schreiben sich das "Chaos" auf die Fahne und werden immer dafür kämpfen und dazu stehen. Es ist wichtig und etwas Gutes für sie.

Andere Menschen leben im Chaos, weil die Umstände selbst chaotisch sind. Sie sind aufgewachsen in einer sich auflösenden Welt, in der alte Ordnungsschemata (lebenslange Erwerbsarbeit, Durchschnittsfamilie, einheitliche Kultur...) verlorengehen. Für sie ist Chaos schon so selbstverständlich, daß sie nicht mehr dafür kämpfen brauchen. Sie leiden eher darunter (Vereinzelung, Isolation, Gleichgültigkeit, Bindungsunfähigkeit...).

Sie gehen schon einen Schritt weiter: sie suchen neue Ordnung im Chaos.

b) Kerzen oder Avantgarde?

Bisher waren die Revolutionen nur Übergänge in neue Ordnungsformen, die wieder zentralistisch funktionierten ("versklaven" nennt ein Physiker das am Beispiel des technischen Geräts Laser, wo auch so was passiert). Die Revolutionen selbst waren meist auch zentral organisiert - das Argument dafür ist das Bündel Stäbe, die nur einzeln, aber nicht als Bündel zu brechen sind. "Einigkeit macht stark"!

Da gibts dann die Avantgarde und die von ihr Geführten, die selbst nix zu bestimmen haben und sich meist auch ganz gut dran gewöhnt haben...

Wenn wir aber in den Zustand der Turbulenz (erfindet bitte einen besseren Begriff für das nicht-zentralistische d)) wollen, muß es diesmal anders ablaufen.

Alle Menschen müssen ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechend sich selbst beteiligen an der Veränderung der Umstände und sich dabei selbst verändern (Marx hat das auch für die sozialistische/kommunistische Revolution schon gefordert). Statt Einigkeit macht hier das Prinzip der Graswurzelvernetzung stark.

Für uns als Minderheit in der Mehrheit noch passiv dahinlebender Menschen bedeutet das:

1. selbst nicht zur Avantgarde zu werden

2. bei uns selbst keine Trennung von Aktion und Konzept, Praxis und Theorie zuzulassen.

Das bedeutet, sich auf den Wechsel von Ordnung und Chaos, den ja viele von uns in der Diskussion gesehen haben, bewußt einzulassen und ihn einerseits geordnet zu planen, andererseits genügend Offenheiten zu lassen. Die methodischen Erfahrungen aus Zukunftswerkstätten sind da sehr hilfreich!

c) Keine Modelle mehr!

Für das von mir angestrebte Zukunftsziel darf es gar kein ausgearbeites "Modell für alle" geben, weil das wieder eine diktatorische Vorgabe wäre. Die Zukunft muß aus dem Tun aller entstehen. Außerdem sichert ja die Dezentralität gerade, daß für viele Vorstellungen Lebensmöglichkeiten vorhanden sind und nicht alles einheitlich und gleich sein muß!

Deshalb kann ich nur Rahmenbedingungen untersuchen, einiges zur Veranschaulichung sagen, kann Wissen über typische Entwicklungsprinzipien anwenden - aber am besten im eigenen praktischen Tun.

Ich persönlich mache das an einigen Stellen, bin aber auch noch offen für weitere Vernetzungen mit Euch.


- einige Nachüberlegungen zu den "Chaos"-Seminaren vom Pfingscamp der Thüringer Jugendumweltbewegung 1996 -

Neuerscheinung:

Annette Schlemm: Surfende Schmetterlinge im politischen Chaos (3 DM)


siehe auch

oder siehe untenSystemtheorie  AutopoieseSelbstorganisationEntwicklungsprinzipienGesellschaftstheorienAttraktoren und ChaosChaosZukunft zum Selbermachen





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